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Jesus in Jerusalem

1 . Jesus besichtigt den Tempel  •  Jesus und Passah  •  Abreise Josephs und Marias  •  Erster und zweiter Tag im Tempel  •  Der dritte Tag im Tempel  •  Der vierte Tag im Tempel

KEIN Vorkommnis auf dem gesamten ereignisreichen irdischen Lebensweg Jesu war anziehender, menschlich erregender als dieser in seiner Erinnerung erste Besuch Jerusalems. Die Erfahrung, an den Tempeldiskussionen ganz auf sich selber gestellt teilzunehmen, regte ihn besonders an, und lange hob sie sich aus seinen Erinnerungen als das große Ereignis seiner späten Kindheit und frühen Jugend heraus. Das war die erste Gelegenheit, einige Tage unabhängigen Lebens und das Vergnügen zu genießen, ohne Zwang und ohne Einschränkung zu kommen und zu gehen. Diese kurze, ohne Führung verlebte Zeit in der auf das Passahfest folgenden Woche war das erste vollkommene Freisein von Verantwortung, das er je genossen hatte. Und es sollte danach viele Jahre dauern, ehe ihm wiederum, und sei es auch nur für kurze Zeit, eine ähnliche, von allem Verantwortungsgefühl freie Periode vergönnt war.

125:0.2

Selten kamen Frauen zum Passahfest nach Jerusalem; ihre Gegenwart war nicht erforderlich. Aber Jesus hatte es faktisch abgelehnt, ohne die Beglei­tung seiner Mutter mitzugehen. Und als Maria sich dazu entschied, ließen sich auch viele andere Frauen von Nazareth zur Reise bewegen, so dass die Passahfestgesellschaft im Verhältnis zu den Männern die größte Anzahl von Frauen aufwies, die je von Nazareth zum Passahfest aufgebrochen war. Auf dem Wege nach Jerusalem sangen sie von Zeit zu Zeit den hundertdreißigsten Psalm.

125:0.3

Vom Augenblick an, als sie Nazareth verließen, bis sie auf dem Gipfel des Ölbergs anlangten, lebte Jesus in andauernder gespannter und erwartungsvoller Vorfreude. Während seiner ganzen fröhlichen Kindheit hatte er mit Ehrfurcht von Jerusalem und seinem Tempel sprechen hören; nun würde er sie bald in Wirklichkeit sehen. Vom Ölberg aus und von außen, bei näherer Betrachtung, erfüllte und übertraf der Tempel Jesu Erwartungen; aber sobald er durch die heiligen Portale geschritten war, begann die große Ernüch­terung.

125:0.4

In Begleitung seiner Eltern ging er durch die Tempelvorhöfe, um sich zur Gruppe der neuen Söhne des Gesetzes zu gesellen, die im Begriffe waren, die Weihe als Bürger Israels zu empfangen. Er war ein bisschen enttäuscht von dem allgemeinen Verhalten der Menge im Tempel, aber den ersten großen Schock des Tages erhielt er, als seine Mutter sich von ihnen trennte, um auf die Frauengalerie zu gehen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass seine Mutter ihn nicht zu den Weihehandlungen begleiten dürfte, und er war zutiefst empört darüber, dass sie eine solch ungerechte Diskriminierung zu erdulden hatte. Auch wenn ihn dies heftig aufbrachte, sagte er nichts außer einigen Bemerkungen des Protestes zu seinem Vater. Aber er dachte lange und intensiv darüber nach, wie es seine Fragen zeigen sollten, die er eine Woche später an die Schriftgelehrten und Lehrer richtete.

125:0.5

Er ging durch die Riten der Weihe, war aber von ihrer oberflächlichen und routinemäßigen Natur enttäuscht. Er vermisste die persönliche Anteilnahme, wie sie den Zeremonien in der Synagoge von Nazareth eigen war. Darauf kehrte er zurück, um seine Mutter zu begrüßen, und machte sich dann bereit, seinen Vater auf seinem ersten Gang durch den Tempel und dessen verschiedene Höfe, Galerien und Korridore zu begleiten. Die Tempelvorhöfe konnten mehr als zweihunderttausend Gläubige auf einmal fassen, und obschon die Größe dieser Gebäude – im Vergleich mit allen, die er je gesehen hatte – mächtigen Eindruck auf ihn machte, so fesselte es ihn doch mehr, über die geistige Bedeutung der Tempelzeremonien und den diese begleitenden Kult nachzusinnen.

125:0.6

Obgleich viele Tempelrituale seinen Sinn für das Schöne und Symbolische sehr berührten und beeindruckten, war er doch immer enttäuscht von der Erklärung der wirklichen Bedeutung dieser Zeremonien, welche seine Eltern ihm in Beantwortung seiner vielen forschenden Fragen gaben. Jesus wollte ganz einfach keine Erklärungen über Anbetung und religiöse Verehrung annehmen, die einen Glauben an den Zorn Gottes oder den Unwillen des Allmächtigen beinhalteten. Als sie diese Fragen nach Beendigung des Tempelbesuchs weiterdiskutierten und sein Vater milde darauf bestand, dass er sich die orthodoxen jüdischen Glaubensinhalte zu eigen mache, wandte sich Jesus plötzlich seinen Eltern zu, schaute seinem Vater flehend in die Augen und sagte: „Mein Vater, es kann nicht wahr sein – so kann der Vater im Himmel seine verirrten Kinder auf Erden nicht anschauen. Der himmlische Vater kann seine Kinder nicht weniger lieben als du mich liebst. Und ich weiß genau – ganz gleich, was für unbesonnene Dinge ich auch immer täte – du würdest nie deine Wut an mir auslassen, noch deiner Empörung gegen mich Luft machen. Wenn du, mein irdischer Vater, solch einen menschlichen Widerschein des Göttlichen besitzt, wieviel gütiger und voll überfließender Barmherzigkeit muss dann der himmlische Vater sein! Ich weigere mich zu glauben, dass mein Vater im Himmel mich weniger liebt als mein Vater auf Erden.“

125:0.7

Als Joseph und Maria diese Worte ihres erstgeborenen Sohnes hörten, blieben sie ruhig. Und nie wieder versuchten sie, ihn bezüglich der Liebe Gottes und der Barmherzigkeit des Vaters im Himmel umzustimmen.


 
 
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Das Urantia Buch