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Flucht durch Nordgaliläa

6. Die zweite Rede über Religion

155:6.1

Und so, während sie im Schatten eines Hügelhangs eine Pause machten, fuhr Jesus fort, sie in der Religion des Geistes zu unterweisen. Er sagte im Wesen­tlichen:

155:6.2

Ihr seid aus dem Kreis jener Mitmenschen ausgetreten, die sich dafür entschieden haben, sich mit einer Verstandesreligion zufrieden zu geben, die ein starkes Verlangen nach Sicherheit haben und den Konformismus vorziehen. Ihr habt euch entschlossen, die Gefühle von Sicherheit, die auf Autorität beruhen, gegen die Zuversicht des Geistes eines wagemutigen und fortschreitenden Glaubens auszutauschen. Ihr habt es gewagt, gegen den zermürbenden Zwang der institutionellen Religion zu protestieren und die Autorität der überlieferten Traditionen, die jetzt als Wort Gottes betrachtet werden, abzulehnen. Unser Vater hat tatsächlich durch Moses, Elija, Jesaja, Amos und Hosea gesprochen, aber er hat, nachdem die damaligen Propheten fertig gesprochen hatten, nicht aufgehört, der Welt Worte der Wahrheit zu schenken. Mein Vater kennt keine Unterschiede zwischen Rassen oder Generationen, indem einem Zeitalter das Wort der Wahrheit gewährt und einem anderen vorenthalten würde. Seid nicht so töricht, göttlich zu nennen, was nur allzu menschlich ist, und versäumt nicht, die Worte der Wahrheit zu erkennen, wenn sie nicht durch die traditionellen Orakel angeblicher Inspiration kommen.

155:6.3

Ich habe euch aufgerufen, von neuem geboren zu werden, aus dem Geiste geboren zu werden. Ich habe euch aus der Finsternis der Autorität und aus der Lethargie der Tradition herausgerufen in das transzendente Licht der Verwirklichung der Möglichkeit, für euch selber die größte aller Entdeckungen zu machen, die einer menschlichen Seele zu machen gegeben ist – die himmlische Erfahrung, Gott für euch, in euch und durch euch selbst zu entdecken, und all das in eurer persönlichen Erfahrung als Tatsache zu erleben. Und so möget ihr aus dem Tod in das Leben hinüberwechseln, von der Autorität der Tradition zu der Erfahrung, Gott zu kennen; so werdet ihr von der Dunkelheit ins Licht treten, von einem ererbten Glauben der Rasse zu einem persönlichen Glauben kommen, der aus wirklicher Erfahrung wächst; und dabei werdet ihr von einer durch eure Stammväter überlieferten Theologie des Verstandes zu einer wahren Religion des Geistes fortschreiten, die sich in euren Seelen als ewiges Rüstzeug heranbilden wird.

155:6.4

Eure Religion soll sich aus einem lediglich intellektuellen Glauben an traditionelle Autorität in die wirkliche Erfahrung jenes lebendigen Glaubens wandeln, der fähig ist, die Realität Gottes und all dessen, was mit dem göttlichen Geist des Vaters zusammenhängt, zu erfassen. Die Religion des Verstandes bindet euch hoffnungslos an die Vergangenheit; die Religion des Geistes besteht in fortschreitender Offenbarung, und sie ruft euch ständig zu höheren und heiligeren Vollbringungen in geistigen Idealen und ewigen Realitäten auf.

155:6.5

Die Religion der Autorität mag ein momentanes Gefühl verbürgter Sicherheit vermitteln, aber ihr zahlt für solch eine vorübergehende Befriedigung mit dem Verlust eurer geistigen Freiheit und religiösen Unabhängigkeit. Mein Vater fordert von euch für den Eintritt ins Königreich des Himmels nicht den Preis, euch Zwang anzutun, einen Glauben an Dinge zu übernehmen, die geistig widerwärtig, unheilig und unwahr sind. Man verlangt von euch nicht, euch unter Verletzung eures eigenen Sinns für Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit einem überlebten System religiöser Formen und Zeremonien zu unterwerfen. Die Religion des Geistes stellt euch auf ewig frei, der Wahrheit zu folgen, wohin auch immer der Geist euch führen mag. Und wer weiß – vielleicht möchte dieser Geist der heutigen Generation etwas mitteilen, was andere Generationen zu hören sich geweigert haben?

155:6.6

Schande über die falschen religiösen Lehrer, die hungrige Seelen in die trübe und ferne Vergangenheit zurückschleppen und sie dort belassen möchten! Diese Unglücklichen sind dann dazu verurteilt, bei jeder neuen Entdeckung zu erschrecken und bei jeder neuen Offenbarung der Wahrheit die Fassung zu verlieren. Der Prophet, der sagte: ‚Derjenige, dessen Gedanken in Gott ruhen, wird in vollkommenem Frieden bleiben‘ glaubte nicht nur intellektuell an eine autoritative Theologie. Dieser Mensch kannte die Wahrheit – er hatte Gott entdeckt; er redete nicht nur über Gott.

155:6.7

Ich rate euch dringend, die Gewohnheit abzulegen, stets die Propheten von ehedem zu zitieren und das Lob der Helden Israels zu singen, und stattdessen danach zu streben, zu lebendigen Propheten des Allerhöchsten und zu geistigen Helden des kommenden Königreichs zu werden. Es mag wohl lohnend sein, die Führer der Vergangenheit, welche Gott kannten, zu verehren, aber warum solltet ihr darüber die erhabenste Erfahrung der menschlichen Existenz opfern: Gott für euch selber zu entdecken und ihn in eurer eigenen Seele zu kennen?

155:6.8

Jede Menschenrasse hat ihre eigene Betrachtungsweise der menschlichen Existenz; deshalb muss die Verstandesreligion stets diesen verschiedenen rassischen Gesichtspunkten treu bleiben. Nie können die Religionen der Autorität zu einer Einigung gelangen. Menschliche Einheit und Brüderlichkeit unter den Sterblichen können einzig durch das übergeordnete Geschenk der Religion des Geistes erreicht werden. Wohl haben die Rassen verschiedene Mentalitäten, aber der ganzen Menschheit wohnt derselbe göttliche und ewige Geist inne. Die Hoffnung auf menschliche Brüderlichkeit kann nur in dem Maße Wirklichkeit werden, wie sich die ungleichen autoritären Verstandesreligionen von der einigenden und veredelnden Geistesreligion durchdringen und überschatten lassen – von der Religion der persönlichen geistigen Erfahrung.

155:6.9

Die Religionen der Autorität können die Menschen nur entzweien und für ihre Überzeugungen gegeneinander antreten lassen; die Religion des Geistes wird die Menschen zunehmend zusammenführen und bewirken, dass sie einander verständnisvoll und einfühlend begegnen. Die Religionen der Autorität verlangen von den Menschen Einheitlichkeit des Glaubens, aber diese ist im gegenwärtigen Stadium der Welt unmöglich zu verwirklichen. Die Religion des Geistes verlangt nur eine Einheit der Erfahrung – Uniformität der Bestimmung – und lässt großen Freiraum für unterschiedliche Glaubensinhalte. Die Religion des Geistes verlangt nur Uniformität der geistigen Erkenntnis, nicht aber Uniformität des Gesichtspunktes und der Auffassung. Die Religion des Geistes fordert nicht Uniformität intellektueller Ansichten, sondern nur Einheit im Fühlen des Geistes. Die Religionen der Autorität verfestigen sich zu leblosen Kredos; die Religion des Geistes wird zu wachsender Freude und Freiheit durch läuternde Taten liebevollen Dienens und barmherziger Fürsorge.

155:6.10

Aber seht zu, dass keiner von euch verächtlich auf die Kinder Abrahams blicke, weil sie in diese üblen Zeiten traditionsbedingter Unfruchtbarkeit geraten sind. Unsere Vorväter widmeten sich der ausdauernden und leidenschaftlichen Suche nach Gott, und sie fanden ihn, wie keine andere menschliche Rasse als ganze ihn je gekannt hatte seit den Tagen Adams, der viel von diesen Dingen wusste, da er selber ein Sohn Gottes war. Seit Moses Tagen hat mein Vater Israels langes, unermüdliches Ringen, Gott zu finden und Gott zu kennen, nicht übersehen. Generationen ermatteter Juden hörten nicht auf, sich abzurackern, zu schwitzen, zu stöhnen, sich abzumühen und als ein missverstandenes und verachtetes Volk Leiden und Kummer zu erfahren und ertragen, nur um der Entdeckung der Wahrheit über Gott ein bisschen näher zu kommen. Trotz allen Versagens und Zauderns Israels haben unsere Väter von Moses bis zur Zeit von Amos und Hosea nach und nach der ganzen Welt ein immer klareres und wahreres Bild des ewigen Gottes offenbart. Und so wurde der Weg bereitet für die noch größere Offenbarung des Vaters, an der teilzunehmen ihr berufen worden seid.

155:6.11

Vergesst nie, dass es nur noch ein beglückenderes und erregenderes Abenteuer gibt als den Versuch, den Willen des lebendigen Gottes herauszufinden, und das ist die wunderbare Erfahrung, ehrlich zu versuchen, diesen göttlichen Willen zu tun. Und vergesst nicht, dass Gottes Wille in jeder irdischen Beschäftigung getan werden kann. Es gibt nicht geheiligte und weltliche Berufe. Alle Dinge sind heilig im Leben derer, die vom Geist geführt werden, das heißt, die sich der Wahrheit unterordnen und sich durch Liebe veredeln lassen, die durch Barmherzigkeit gelenkt und durch Fairness – Gerechtigkeit – in Schranken gehalten werden. Der Geist, den mein Vater und ich in die Welt senden werden, ist nicht nur der Geist der Wahrheit, sondern auch der Geist der idealistischen Schönheit.

155:6.12

Ihr müsst aufhören, nach Gottes Wort nur auf den Seiten der alten Schriften theologischer Autorität zu suchen. Diejenigen, die aus dem Geiste Gottes geboren sind, werden fortan Gottes Wort erkennen, aus welcher Quelle es auch immer stammen mag. Göttliche Wahrheit muss nicht mit Vorbehalt aufgenommen werden, nur weil der Kanal ihrer Darbringung scheinbar menschlich ist. Viele eurer Brüder akzeptieren die Gottestheorie verstandesmäßig, während sie verfehlen, Gottes Gegenwart geistig wahrzunehmen. Und aus genau diesem Grunde habe ich euch so oft gelehrt, dass man das Königreich des Himmels am besten versteht, indem man die geistige Haltung eines unverdorbenen Kindes erwirbt. Ich empfehle euch nicht die verstandesmäßige Unreife eines Kindes, vielmehr die geistige Einfachheit eines solchen Kleinen, das leicht glaubt und voller Vertrauen ist. Es ist für euch weniger wichtig, Gott als Tatsache zu kennen, als zunehmend in der Fähigkeit zu wachsen, die Gegenwart Gottes zu spüren.

155:6.13

Wenn ihr einmal beginnt, Gott in eurer Seele zu finden, werdet ihr ihn bald auch in den Seelen anderer Menschen und schließlich auch in allen Geschöpfen und Schöpfungen eines mächtigen Universums entdecken. Aber welche Aussicht hat der Vater, als ein Gott höchster Treue und göttlicher Ideale in Menschenseelen zu erscheinen, die nur wenig oder gar keine Zeit auf die gedankenvolle Betrachtung solch ewiger Realitäten verwenden? Obwohl der Verstand nicht der Sitz der geistigen Natur ist, ist er in der Tat die Pforte dazu.

155:6.14

Aber macht nicht den Fehler, anderen Menschen beweisen zu wollen, dass ihr Gott gefunden habt; ihr könnt nicht bewusst einen gültigen Beweis dafür liefern, obwohl es zwei positive und mächtige Hinweise auf die Tatsache gibt, dass ihr Gott kennt, nämlich:

155:6.15

1. Die Früchte des Geistes Gottes, die sich in eurem täglichen gewohnten Leben zeigen.

155:6.16

2. Die Tatsache, dass euer ganzer Lebensplan eindeutig den Beweis liefert, dass ihr für das Abenteuer des Fortlebens nach dem Tode rückhaltlos alles, was ihr seid und besitzt, aufs Spiel gesetzt habt in der Verfolgung der Hoffnung, den Gott der Ewigkeit zu finden, von dessen Gegenwart ihr einen Vorgeschmack in der Zeit bekommen habt.

155:6.17

Täuscht euch indessen nicht; mein Vater wird stets auf ein noch so schwaches Aufflackern des Glaubens antworten. Er nimmt die physischen und abergläubischen Emotionen des primitiven Menschen zur Kenntnis. Und bei jenen ehrlichen, aber ängstlichen Seelen, deren Glaube so schwach ist, dass er kaum mehr ist als ein intellektuelles Gutheißen einer passiv zustimmenden Haltung gegenüber den Religionen der Autorität, achtet der Vater stets darauf, sogar all diese schwachen Versuche, ihn zu erreichen, anzuerkennen und zu fördern. Aber von euch, die ihr aus der Dunkelheit ins Licht gerufen worden seid, wird erwartet, dass ihr von ganzem Herzen glaubt; euer Glaube soll die vereinte Haltung von Körper, Verstand und Geist beherrschen.

155:6.18

Ihr seid meine Apostel, und für euch soll Religion kein theologisches Schutzdach werden, unter das ihr flieht aus Furcht, euch den rauhen Realitäten geistigen Fortschritts und idealistischer Unternehmungen zu stellen; vielmehr soll eure Religion zur Tatsache einer realen Erfahrung werden, die bezeugt, dass Gott euch gefunden, euch idealisiert, geadelt und vergeistigt hat, und dass ihr euch am ewigen Abenteuer beteiligt, Gott zu finden, der euch gefunden und in die Sohnschaft aufgenommen hat.

155:6.19

Und als Jesus mit Reden geendet hatte, gab er Andreas ein Zeichen, wies nach Westen in Richtung Phönizien und sagte: „Machen wir uns auf den Weg.“


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