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Flucht durch Nordgaliläa

5. Die Rede über wahre Religion

155:5.1

Diese denkwürdige Rede über Religion, die wir zusammenfassen und in moderner Sprache neu formulieren, drückte die folgenden Wahrheiten aus:

155:5.2

Die Religionen der Welt haben einen doppelten – einen natürlichen und einen offenbarten – Ursprung, und man findet zu jeder Zeit und in jedem Volk drei verschiedene Formen religiöser Hingebung. Und diese drei Manifestationen des religiösen Dranges sind:

155:5.3

1. Primitive Religion. Der halbnatürliche und instinktive Drang, geheimnisvolle Energien zu fürchten und höhere Mächte anzubeten, hauptsächlich eine Religion der physischen Natur, die Religion der Furcht.

155:5.4

2. Die Religion der Zivilisation. Die sich fortentwickelnden religiösen Vorstellungen und Praktiken der sich zivilisierenden Rassen – die Religion des Verstandes – die intellektuelle Theologie, die auf der Autorität der herrschenden religiösen Tradition beruht.

155:5.5

3. Wahre Religion – die Religion der Offenbarung. Die Offenbarung übernatürlicher Werte, ein teilweiser Einblick in ewige Realitäten, ein flüchtiger Blick auf die Güte und Schönheit des unendlichen Charakters des Vaters im Himmel – die Religion des Geistes, wie sie sich in der menschlichen Erfahrung zeigt.

155:5.6

Der Meister wollte die Religion der physischen Sinne und die abergläubische Furcht des Naturmenschen nicht herabsetzen, bedauerte aber die Tatsache, dass so vieles von dieser primitiven Form der Anbetung in den Religionen der intelligenteren menschlichen Rassen fortlebte. Jesus machte klar, dass der große Unterschied zwischen der Religion des Verstandes und der Religion des Gei­stes darin besteht, dass sich die erste auf kirchliche Autorität stützt, während die zweite einzig auf menschlicher Erfahrung fußt.

155:5.7

Und dann fuhr der Meister in dieser Lehrstunde fort, folgende Wahrheiten klarzumachen:

155:5.8

Solange die Rassen nicht hochintelligent und zivilisierter geworden sind, werden viele dieser kindlichen und abergläubischen Zeremonien weiter bestehen, die für die evolutionären religiösen Praktiken primitiver und rückständiger Völker so bezeichnend sind. Solange die menschliche Rasse nicht zur Ebene einer höheren und allgemeineren Erkenntnis der Realitäten geistiger Erfahrung fortschreitet, wird ein großer Teil von Männern und Frauen weiterhin eine persönliche Vorliebe für jene autoritären Religionen bekunden, die nur intellektuelle Zustimmung verlangen im Unterschied zur Religion des Geistes, die die aktive Beteiligung von Verstand und Seele erfordert für das Abenteuer des Glaubens im Ringen mit den harten Realitäten der fortschreitenden menschlichen Erfahrung.

155:5.9

Die traditionellen Autoritätsreligionen zu akzeptieren, ist ein bequemer Ausweg für den Trieb im Menschen, Befriedigung für die Sehnsüchte seiner geistigen Natur zu suchen. Die bestehenden, in festen Formen etablierten Autoritätsreligionen bieten eine stets verfügbare Zuflucht, wohin die verwirrte und beunruhigte menschliche Seele flüchten kann, wenn Furcht sie zermürbt und Ungewissheit sie quält. Eine solche Religion verlangt von ihren Anhängern als Preis für die gespendete Befriedigung und Sicherheit lediglich eine passive und rein intellektuelle Zustimmung.

155:5.10

Und noch lange werden auf Erden solche scheuen, ängstlichen und zögernden Personen leben, die es vorziehen, sich ihre religiösen Tröstungen auf diese Art zu verschaffen, auch wenn sie damit ihr Schicksal an die Autoritätsreligionen binden und so die Souveränität ihrer Persönlichkeit aufs Spiel setzen, die Würde der Selbstachtung erniedrigen und vollkommen das Recht abgeben, teilzuhaben an der hinreißendsten und inspirierendsten aller möglichen menschlichen Erfahrungen: der persönlichen Suche nach Wahrheit, dem Reiz, den Gefahren intellektueller Entdeckungen zu begegnen, der Entschlossenheit, die Realitäten der persönlichen religiösen Erfahrung zu erforschen, der allerhöchsten Befriedigung und des persönlichen Triumphgefühls, den Sieg des geistigen Glaubens über den intellektuellen Zweifel errungen zu haben; einen Sieg, den man ehrlich erringt im größten Abenteuer der ganzen menschlichen Existenz – der Mensch auf der Suche nach Gott, für sich selbst und als er selbst, und ihn schließlich findend.

155:5.11

Die Religion des Geistes bedeutet Anstrengung, Kampf, Konflikt, Glauben, Entschlossenheit, Liebe, Treue und Fortschritt. Die Religion des Verstandes – die Theologie der Autorität – verlangt von ihren formellen Anhängern wenige oder gar keine dieser Bemühungen. Die Tradition ist eine sichere Zuflucht und ein einfacher Weg für all jene ängstlichen und halbherzigen Seelen, die instinktiv den geistigen Auseinandersetzungen und mentalen Ungewissheiten ausweichen, welche mit dem Glauben einhergehen auf seiner kühnen Abenteuerreise auf den Meeren unerforschter Wahrheit und bei seiner Suche nach den fernen Küsten geistiger Realitäten, die vom fortschreitenden menschlichen Verstand entdeckt und von der sich entwickelnden menschlichen Seele erfahren werden können.

155:5.12

Und Jesus fuhr fort: „In Jerusalem haben die religiösen Führer die verschiedenen Glaubenssätze ihrer traditionellen Lehrer und einstigen Propheten als fest gefügtes System intellektueller Glaubensinhalte formuliert, als eine Religion der Autorität. Alle solchen Religionen wenden sich weitgehend an den Verstand. Und nun sind wir dabei, mit einer solchen Religion in tödlichen Konflikt zu geraten, denn wir werden binnen kurzem mit der unerschrockenen Verkündigung einer neuen Religion beginnen – einer Religion, die nicht eine Religion im heute gültigen Sinne des Wortes ist, einer Religion, die hauptsächlich an den göttlichen, dem menschlichen Verstand innewohnenden Geist meines Vaters appelliert: die Autorität dieser Religion leitet sich aus den Früchten ab, die sich mit großer Sicherheit in der persönlichen Erfahrung all derjenigen zeigen werden, die sie angenommen haben und wirklich und wahrhaftig an die Wahrheiten dieser höheren geistigen Gemeinschaft glauben.“

155:5.13

Indem er auf jeden der Vierundzwanzig zeigte und ihn bei seinem Namen aufrief, sagte Jesus: „Und jetzt, wer von euch würde es vorziehen, diesen bequemen Weg der Anpassung an eine etablierte und versteinerte Religion, wie die Pharisäer in Jerusalem sie verteidigen, einzuschlagen, anstatt die mit dem Auftrag der Verkündigung eines besseren Heilsweges für die Menschen verbundenen Schwierigkeiten und Verfolgungen zu ertragen, und dabei die Genugtuung zu erleben, selber die Schönheiten der Wirklichkeit einer lebendigen und persönlichen Erfahrung der ewigen Wahrheiten und erhabenen Herrlichkeiten des Königreichs des Himmels zu entdecken? Seid ihr ängstlich, weichlich und auf der Suche nach Bequemlichkeit? Habt ihr Angst, eure Zukunft in die Hände des Gottes der Wahrheit zu legen, dessen Söhne ihr seid? Misstraut ihr dem Vater, dessen Kinder ihr seid? Wollt ihr auf den mühelosen Weg der Gewissheit und intellektuellen Unverrückbarkeit der Religion der traditionellen Autorität zurückkehren, oder wollt ihr euch rüsten und mit mir vorwärts gehen in jene unsichere und schwierige Zukunft der Verkündigung der neuen Wahrheiten der Religion des Geistes, des Königreichs des Himmels in den Herzen der Menschen?“

155:5.14

Seine vierundzwanzig Zuhörer sprangen alle auf in der Absicht, einhellig und loyal auf diesen Appell, einen der ganz wenigen emotionalen Appelle, die Jesus je an sie richtete, zu antworten; aber er erhob seine Hand, gebot ihnen Einhalt und sprach: „Jeder ziehe sich nun zurück, um mit dem Vater allein zu sein und dort die nicht-emotionale Antwort auf meine Frage zu finden. Und wenn ihr solch eine wahre und aufrichtige Haltung der Seele gefunden habt, dann sagt eure Antwort frei heraus und kühn zu meinem Vater und eurem Vater, dessen unendliches Leben der Liebe der wahre Geist der Religion ist, die wir verkündigen.“

155:5.15

Für kurze Zeit zogen sich die Apostel und Evangelisten jeder für sich zurück. Sie waren in gehobener Stimmung, ihre Gedanken inspiriert und ihre Gefühle durch das, was Jesus gesagt hatte, mächtig aufgewühlt. Aber als Andreas sie dann zusammenrief, sagte der Meister nur: „Setzen wir unsere Reise fort. Wir gehen nach Phönizien und werden eine Weile dort bleiben, und jeder von euch sollte den Vater darum bitten, die eigenen seelischen und körperlichen Emotionen in höher stehende bewusste Treue und in befriedigendere geistige Erfahrungen umzuwandeln.“

155:5.16

Als sie auf ihrem Weg weitergingen, waren die Vierundzwanzig schweigsam, aber bald begannen sie, miteinander zu sprechen, und um drei Uhr nachmittags mochten sie nicht mehr weitergehen; sie hielten an, und Petrus ging zu Jesus und sagte: „Meister, du hast Worte des Lebens und der Wahrheit zu uns gesprochen. Wir möchten noch mehr hören; wir bitten dich inständig darum, uns mehr über diese Dinge zu sagen.“


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