Jesus dachte seltsamerweise nicht an seine irdischen Eltern; auch als Lazarus‘ Mutter beim Frühstück bemerkte, seine Eltern seien nun wohl bald zu Hause, schien Jesus nicht zu begreifen, dass sie über sein Zurückbleiben einigermaßen in Sorge sein mussten.
Er begab sich wiederum zum Tempel, blieb aber nicht oben auf dem Ölberg stehen, um nachzudenken. Während der morgendlichen Diskussionen wurde viel Zeit auf das Gesetz und die Propheten verwendet, und die Lehrer waren erstaunt, dass Jesus mit den Schriften sowohl in Hebräisch wie auch in Griechisch so vertraut war. Aber seine Jugend erstaunte sie noch mehr als seine Kenntnis der Wahrheit.
Am Nachmittag hatten sie kaum begonnen, seine Frage zu beantworten, die den Zweck des Gebetes betraf, als der Vorsitzende den Jungen aufforderte, nach vorn zu kommen. Und als er neben ihm saß, lud er ihn ein, seine eigenen Anschauungen über das Gebet und die Gottesverehrung darzulegen.
Am Abend zuvor hatten Jesu Eltern von dem seltsamen Jungen gehört, der sich mit den Gesetzesauslegern so geschickt Wortgefechte lieferte, aber es war ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass dieser Knabe ihr Sohn war. Sie hatten nahezu entschieden, sich zum Haus des Zacharias zu begeben, da sie dachten, Jesus sei möglicherweise dorthin gegangen, um Elisabeth und Johannes zu besuchen. Sie überlegten sich, Zacharias könnte vielleicht im Tempel sein und machten dort auf ihrem Weg nach der Stadt Juda Halt. Man stelle sich ihre Überraschung und Verwunderung vor, als sie auf ihrem Gang durch die Tempelhöfe die Stimme des vermissten Jungen erkannten und ihn mitten unter den Tempelgelehrten sitzend erblickten.
Joseph war sprachlos, aber Maria machte ihrem lange aufgestauten Bangen und ihrer Beklemmung Luft, indem sie auf den Jungen zueilte, der aufgestanden war, um seine erstaunten Eltern zu begrüßen, und zu ihm sagte: „Mein Kind, warum hast du uns so behandelt? Seit mehr als drei Tagen suchen dein Vater und ich dich voller Kummer. Was ist nur in dich gefahren, uns zu verlassen?“ Es war ein spannungsgeladener Augenblick. Aller Augen waren auf Jesus gerichtet in Erwartung dessen, was er sagen würde. Sein Vater schaute ihn vorwurfsvoll an, sagte aber nichts.
Es sollte in Erinnerung gerufen werden, dass Jesus nun eigentlich als junger Mann galt. Er hatte die vorschriftsmäßige Schulzeit eines Kindes abgeschlossen, war als Sohn des Gesetzes anerkannt worden und hatte die Weihe als Bürger Israels erhalten. Dennoch erteilte ihm seine Mutter vor all den versammelten Leuten eine eher unsanfte Rüge, und zwar mitten in der ernstesten und erhabensten Anstrengung seines jungen Lebens, und sie brachte dadurch eine der größten Gelegenheiten, die sich Jesus je bot, als Lehrer der Wahrheit, Prediger der Rechtschaffenheit und Offenbarer des liebenden Charakters seines himmlischen Vaters zu wirken, zu einem unrühmlichen Ende.
Aber der Junge zeigte sich den Umständen gewachsen. Wenn man alle an der Entstehung dieser Situation mitwirkenden Faktoren richtig in Betracht zieht, ist man besser imstande, die Weisheit der Antwort des Knaben auf den unabsichtlichen Tadel seiner Mutter zu ergründen. Nach kurzer Überlegung antwortete Jesus seiner Mutter folgendermaßen: „Warum habt ihr mich so lange gesucht? Würdet ihr nicht erwarten, mich in meines Vaters Haus zu finden, da die Zeit gekommen ist, dass ich mich um die Angelegenheiten meines Vaters kümmere?“
Jedermann staunte über des Jungen Art zu sprechen. Schweigend zogen sich alle zurück und ließen ihn mit seinen Eltern allein. Augenblicklich verscheuchte er die Betretenheit aller drei, als er ruhig sprach: „Kommt, meine Eltern, jeder von uns hat nur getan, was ihm das Beste zu sein schien. Unser Vater im Himmel hat diese Dinge so angeordnet; lasst uns nach Hause gehen.“
Schweigend machten sie sich auf den Weg und kamen zur Übernachtung in Jericho an. Nur einmal hielten sie auf der Kuppe des Ölbergs an, als der Junge seinen Wanderstab hob und, vor starker Erregung von Kopf bis Fuß zitternd, sprach: „Oh Jerusalem, Jerusalem und deine Bewohner, was für Sklaven seid ihr – dem römischen Joch unterworfen und Opfer eurer eigenen Traditionen – aber ich werde zurückkehren, um den Tempel zu reinigen und mein Volk von dieser Knechtschaft zu befreien!“
Auf der dreitägigen Rückreise nach Nazareth sprach Jesus nur wenig; auch seine Eltern sagten in seiner Gegenwart nicht viel. Sie wussten wirklich nicht mehr, wie sie das Verhalten ihres erstgeborenen Sohnes verstehen sollten, aber sie bewahrten seine Worte als kostbares Gut in ihren Herzen, auch wenn sie deren Bedeutung nicht ganz begreifen konnten.
Als sie zu Hause anlangten, gab Jesus gegenüber seinen Eltern eine kurze Erklärung ab. Er versicherte sie seiner Zuneigung und gab ihnen zu verstehen, sie brauchten nicht zu fürchten, dass er ihnen je wieder Anlass zu Besorgnis wegen seines Verhaltens geben würde. Er schloss diese wichtige Erklärung mit den Worten: „Obwohl ich den Willen meines Vaters im Himmel tun muss, werde ich auch meinem irdischen Vater gehorsam sein. Ich werde meine Stunde abwarten.“
Auch wenn sich Jesus in seinem Innern oft weigerte, den gut gemeinten, aber irrigen Versuchen seiner Eltern zuzustimmen, seinen Gedanken die Richtung vorzuschreiben oder den Plan seines irdischen Wirkens festzulegen, so fügte er sich dennoch auf geziemende Art den Wünschen seines irdischen Vaters und den Bräuchen seiner leiblichen Familie in jeder Weise, die sich mit seiner Hingabe an den Willen seines paradiesischen Vaters vereinbaren ließ. Selbst wenn er nicht zustimmen konnte, tat er doch alles nur Mögliche, um sich anzupassen. Er war ein Künstler, wenn es darum ging, seine Hingabe an seine Aufgabe mit den Verpflichtungen gegenüber der Familie und dem Dienst an der Gemeinschaft abzustimmen.
Joseph stand vor einem Rätsel, aber Maria, je länger sie über das Erlebte nachdachte, fasste neuen Mut und betrachtete schließlich seinen Ausspruch auf dem Ölberg als prophetisch im Sinne der messianischen Sendung ihres Sohnes als Befreier Israels. Sie machte sich mit neuer Energie daran, seine Gedanken in patriotische und nationalistische Kanäle zu lenken und gewann dafür die Unterstützung ihres Bruders, des Lieblingsonkels Jesu. Und auf jede erdenkliche andere Weise widmete sich Jesu Mutter der Aufgabe, ihren erstgeborenen Sohn darauf vorzubereiten, dereinst die Führung jener zu übernehmen, die den Thron Davids wiederherstellen und das heidnische Joch politischer Knechtung für immer abschütteln würden.
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