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Die Evolution des Gebetes

3. Gebet und das Alter Ego

91:3.1

Wenn die Kinder anfangen, die Sprache zu gebrauchen, neigen sie dazu, laut zu denken, ihre Gedanken in Worten auszudrücken, auch wenn niemand da ist, um ihnen zuzuhören. Mit dem Erwachen ihrer schöpferischen Imagination zeigen sie eine Tendenz, sich mit eingebildeten Gefährten zu unterhalten. Auf diese Art versucht das sich entfaltende Ego, eine enge Verbindung mit einem fiktiven Alter Ego zu unterhalten. Dank dieser Technik lernt das Kind schon früh, seine monologischen Unterhaltungen in Pseudodialoge zu verwandeln, in denen das Alter Ego auf sein gesprochenes Denken und auf seine ausgedrückten Wünsche Antworten gibt. Ein großer Teil des Denkens eines Erwachsenen geht in Form einer Unterhaltung vor sich.

91:3.2

Die frühe und primitive Gebetsform glich stark den halbmagischen Rezitationen des heutigen Stammes der Toda, Gebeten, die an niemanden im Beson­deren gerichte­t sind. Aber diese Gebetstechnik hat die Tendenz, beim Erwachen der Idee eines Alter Ego in eine dialogische Kommunikationsform überzugehen. Mit der Zeit wird das Alter-Ego-Konzept auf einen höheren Stand göttlicher Würde hinaufgehoben, und damit tritt das Gebet als eine wirkende Kraft der Religion auf. Dieser primitive Gebetstyp ist dazu bestimmt, sich durch viele Phasen und während langer Zeitalter weiterzuentwickeln, bevor die Stufe intelligenten und wahrhaft ethischen Betens erreicht ist.

91:3.3

In der Vorstellung der aufeinander folgenden Generationen betender Sterbli­cher entwickelt sich das Alter Ego hinauf über Phantome, Fetische und Geister zu polytheistischen Göttern und endlich zum Einen Gott, einem göttlichen Wesen, das die höchsten Ideale und die erhabensten Sehnsüchte des betenden Ego in sich schließt. Und so funktioniert das Gebet als mächtigste Kraft der Religion zur Erhaltung der höchsten Werte und Ideale der Betenden. Vom Augen­blick der Idee eines Alter Ego an bis zum Erscheinen des Konzeptes eines göttlichen und himmlischen Vaters ist Beten stets eine sozialisierende, versittlichende und vergeistigende Praxis.

91:3.4

Das einfache, aus dem Glauben gesprochene Gebet beweist, dass in der menschlichen Erfahrung eine gewaltige Evolution vor sich gegangen ist, welche die alten, der primitiven Religion angehörenden Dialoge mit dem fiktiven Symbol des Alter Ego emporgehoben hat auf die Ebene der Verbindung mit dem Geist des Unendlichen und auf jene eines echten Bewusstseins von der Realität des ewigen Gottes und Paradies-Vaters der gesamten intelligenten Schöpfung.

91:3.5

Abgesehen von alldem, was in der Gebetserfahrung dem Überselbst angehört, sollte daran erinnert werden, dass ethisches Beten ein großartiger Weg ist, um sein Ego emporzuheben und das Selbst für eine bessere Lebensweise und höheres Vollbringen zu stärken. Das Gebet veranlasst das menschliche Ego, sich von zwei Seiten Hilfe zu erbitten: materielle Hilfe aus dem unterbewussten Reservoir irdischer Erfahrung und Inspiration und Führung aus den überbewussten Zonen, wo das Materielle sich mit dem Geistigen, mit dem Unergründlichen Mentor, berührt.

91:3.6

Das Gebet ist immer eine doppelte menschliche Erfahrung gewesen und wird es immer bleiben: Ein psychologischer Vorgang, der mit einer geistigen Technik verbunden ist. Und diese beiden Gebetsfunktionen können nie völlig auseinander gehalten werden.

91:3.7

Erleuchtetes Beten muss nicht nur einen äußeren und persönlichen Gott anerkennen, sondern auch eine innere und unpersönliche Göttlichkeit, den innewohnenden Justierer. Es ist durchaus angebracht, dass der Mensch, wenn er betet, danach trachten sollte, das Konzept des Universalen Vaters im Paradies zu erfassen; aber für die meisten praktischen Zwecke wird die wirksamere Technik darin bestehen, zur Vorstellung von dem in nächster Nähe befindlichen Alter Ego zurückzukehren, gerade wie es die Gewohnheit des primitiven Verstandes gewesen war, aber dann zu erkennen, dass die Idee von diesem Alter Ego sich aus einer bloßen Fiktion in die Wahrheit verwandelt hat, dass Gott dem sterblichen Menschen in der tatsächlichen Gegenwart des Justierers innewohnt, so dass der Mensch sozusagen von Angesicht zu Angesicht mit einem wirklichen und authentischen und göttlichen Alter Ego sprechen kann, das ihn bewohnt und die Gegenwart und Essenz des lebendigen Gottes, des Universalen Vaters, selber ist.


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