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Schrift 196

Der Glaube Jesu

Jesus – der Mensch  •  Die Religion Jesu  •  Die übergeordnete Stellung der Religion

JESUS besaß einen sublimen und aus ganzem Herzen kommenden Glauben an Gott. Er erfuhr die gewöhnlichen Höhen und Tiefen der sterblichen Existenz, aber was seine Religion betraf, zog er nie die Gewissheit in Zweifel, von Gott behütet und geführt zu werden. Sein Glaube wuchs aus einer Erkenntnis, die der Aktivität der göttlichen Gegenwart entsprang, seinem ihm innewohnenden Justierer. Sein Glaube war weder traditionell noch lediglich intellektuell; er war ganz und gar persönlich und rein geistig.

196:0.2

Aus der Sicht des menschlichen Jesus war Gott sowohl heilig, gerecht und groß als auch wahr, schön und gut. All diese Attribute der Göttlichkeit konzentrierte er in seinem Denken im „Willen des Vaters im Himmel“. Jesu Gott war zugleich „Der Heilige Israels“ und „Der lebendige und liebende Vater im Himmel“. Die Vorstellung von Gott als einem Vater stammte nicht von Jesus, aber er belebte und steigerte die Idee zu einer sublimen Erfahrung, indem er Gott neu offenbarte und verkündete, dass jedes sterbliche Geschöpf ein Kind dieses Vaters der Liebe, ein Sohn Gottes ist.

196:0.3

Jesus klammerte sich an den Gottesglauben nicht nach Art einer ringenden Seele, die sich im Krieg mit dem Universum und in tödlichem Kampf mit einer feindseligen und sündigen Welt befindet; er nahm nicht zum Glauben Zuflucht, nur um inmitten von Schwierigkeiten Trost und in drohender Verzweiflung neuen Mut zu finden; der Glaube war nicht einfach eine trügerische Kompensation für die unerfreulichen Realitäten und die Kümmernisse des Lebens. Konfrontiert mit all den natürlichen Schwierigkeiten und den irdischen Widersprüchen der sterblichen Exis­tenz erfuhr er die Seelenruhe höchsten und unbedingten Gottvertrauens und fühlte die mächtige Anregung, durch den Glauben ganz unmittelbar in der Gegenwart des himmlischen Vaters zu leben. Und dieser triumphierende Glaube war die lebendige Erfahrung einer wirklichen geistigen Vollbringung. Der große Beitrag Jesu zu den Werten menschlicher Erfahrung war nicht, dass er so viele neue Ideen über den Vater im Himmel offenbarte, sondern auf so wunderbare und menschliche Weise eine neue und höhere Art lebendigen Glaubens an Gott vorlebte. Auf keiner aller Welten dieses Universums noch im Leben irgendeines Sterblichen wurde Gott jemals eine derart lebendige Realität wie in der menschlichen Erfahrung Jesu von Nazareth.

196:0.4

Im Leben des Meisters auf Urantia entdecken diese und alle anderen Welten der lokalen Schöpfung einen neuen und höheren Typus von Religion, einer Religion, die auf der persönlichen geistigen Beziehung mit dem Universalen Vater beruht und ihre Gültigkeit einzig und allein von der höchsten Autorität authentischer persönlicher Erfahrung ableitet. Dieser lebendige Glaube Jesu war mehr als intellektuelles Nachdenken, und er war kein mystisches Meditieren.

196:0.5

Die Theologie mag den Glauben fixieren, formulieren, definieren und dogmatisieren, aber im menschlichen Leben Jesu war der Glaube persönlich, lebendig, ursprünglich, spontan und rein geistig. Dieser Glaube war weder eine Verneigung vor der Tradition noch ein rein intellektueller Glaube, den er als heiliges Kredo betrachtete, sondern vielmehr eine sublime Erfahrung und tiefe Überzeugung, die ihn sicher trug. Sein Glaube war so wirklich und allumfassend, dass er irgendwelche geistigen Zweifel total hinwegfegte und jeden zuwiderlaufenden Wunsch wirksam vernichtete. Nichts vermochte ihn von der geistigen Verankerung in diesem glühenden, sublimen und unerschrockenen Glauben loszureißen. Selbst angesichts einer offenbaren Niederlage oder mitten in Enttäuschung und drohender Verzweiflung stand er ruhig in der göttlichen Gegenwart, frei von Furcht und im vollen Bewusstsein geistiger Unbesiegbarkeit. Jesus besaß die stärkende Gewissheit, einen unerschütterlichen Glauben zu haben, und unfehlbar bewies er in jeder kritischen Lebenssituation dem Willen des Vaters bedingungslose Treue. Und dieser großartige Glaube schreckte nicht einmal vor der grausamen und niederschmetternden Drohung eines schimpflichen Todes zurück.

196:0.6

Bei einem religiösen Genie führt ein starker geistiger Glaube häufig direkt zu unheilvollem Fanatismus, zu einer Überbetonung des religiösen Egos, aber das war bei Jesus nicht der Fall. Sein außerordentlicher Glaube und sein im Geistigen Vollbrachtes wirkten sich in seinem praktischen Leben nicht ungünstig aus, weil seine geistige Inbrunst ein gänzlich unbewusster und spontaner seelischer Ausdruck seiner persönlichen Erfahrung mit Gott war.

196:0.7

Der alles verzehrende und unbeugsame geistige Glaube Jesu wurde nie fanatisch, weil er nie versuchte, mit seinem ausgewogenen intellektuellen Urteil durchzugehen, wenn es um die verhältnismäßige Bewertung praktischer und alltäglicher sozialer, wirtschaftlicher und sittlicher Lebenssituationen ging. Der Menschensohn war eine hervorragend in sich geeinte menschliche Persön­lichkeit; er war ein vollkommen begabtes göttliches Wesen; er war auch wunderbar koordiniert als ein vereinigtes göttlich-menschliches Wesen, das auf Erden in einer einzigen Persönlichkeit funktionierte. Immer brachte der Meister den Glauben der Seele in Einklang mit dem Urteil der Weisheit, das gereifter Erfahrung entstammte. Persönlicher Glaube, geis­tige Hoffnung und sittliche Hingabe waren immer untereinander abgestimmt in unvergleichlicher religiöser Einheit und harmonischer Verbindung mit der klaren Erkenntnis der Realität und Heiligkeit aller menschlichen Loyalitäten – persönliche Ehre, Liebe zur Familie, religiöse Pflichten, soziale Aufgaben und wirtschaftliche Notwendigkeiten.

196:0.8

Aus der Sicht des glaubenden Jesus befanden sich alle geistigen Werte im Reich Gottes; deshalb sagte er: „Sucht zuerst das Königreich des Himmels.“ Jesus sah in der fortgeschrittenen und idealen Brüderlichkeit des Königreichs die Erfüllung und Vollendung des „Willens Gottes“. Das Herzstück des Gebetes, das er seine Jünger lehrte, war: „Dein Königreich komme; dein Wille geschehe.“ Nachdem er zu der Auffassung gelangt war, das Königreich habe den Willen Gottes zum Inhalt, widmete er sich der Sache seiner Verwirklichung in erstaunlicher Selbstvergessenheit und mit grenzenlosem Enthusiasmus. Aber nie während seiner so intensiven Sendung und während seines außergewöhnlichen Lebens konnte an ihm die Heftigkeit eines Fanatikers oder die oberflächliche Hohlheit eines religiösen Egotisten wahrgenommen werden.

196:0.9

Das ganze Leben des Meisters wurde konsequent von diesem lebendigen Glauben, von dieser sublimen religiösen Erfahrung bestimmt. Diese geistige Haltung beherrschte all sein Denken und Fühlen, sein Glauben und Beten, sein Lehren und Predigen. Dieses persönliche Vertrauen eines Sohnes in die Gewissheit und Sicherheit der Führung und des Schutzes des himmlischen Vaters verlieh seinem einzigartigen Leben tiefe geistige Wirklichkeit. Und doch, trotz seines tiefen Bewusstseins enger Verbundenheit mit der Göttlichkeit gab dieser Galiläer, Galiläer Gottes, als er mit „Guter Lehrer“ angesprochen wurde, umgehend zur Antwort: „Warum nennst du mich gut?“ Wenn wir uns soviel großartiger Selbstvergessenheit gegenüber sehen, beginnen wir zu begreifen, dass es dem Universalen Vater möglich war, sich ihm so vollständig zu erkennen zu geben und sich durch ihn den Sterblichen der Welten zu offenbaren.

196:0.10

Jesus brachte Gott als ein Mensch dieser Welt das größte aller Opfer: Er widmete und weihte seinen eigenen Willen der erhabenen Aufgabe, den göttlichen Willen auszuführen. Jesus deutete Religion stets und durchweg als den Willen des Vaters. Wenn ihr euch in den Lebenslauf des Meisters vertieft, um etwas über das Gebet oder irgendwelche anderen Merkmale des religiösen Lebens zu erfahren, dann sucht nicht so sehr nach dem, was er lehrte, als nach dem, was er tat. Jesus betete nie aus religiöser Pflicht. Das Gebet war für ihn aufrichtiger Ausdruck seiner Geisteshaltung, eine Treueerklärung der Seele, das Aussprechen persönlicher Hingabe, Ausdruck des Dankes, Ver­­meiden von emotionaler Spannung, Konfliktvorbeugung, gesteigerte Verstandestätigkeit, Veredelung des Begehrens, Rechtfertigung sittlicher Ent­schei­dungen, Bereicherung des Denkens, Stärkung höherer Neigungen, Weihung aller Impulse, Klärung des Standpunktes, Glaubenserklärung, trans­­zendentales Aufgeben des Willens, sublime Vertrauenserklärung, Offenbarung von Mut, Ausdruck von Entdeckerfreude, Bekenntnis höchster Hingabe, Bestätigung der Weihung, eine Methode zum Ausgleichen von Schwierigkeiten, und die mächtige Mobilisierung der vereinten Seelenkräfte, um allen menschlichen Neigungen zu Eigensucht, Üblem und Sünde zu widerstehen. Und genau ein solches Leben betender Hingabe an die Ausführung des Willens seines Vaters lebte er, und er beschloss es siegreich gerade mit solch einem Gebet. Das Geheimnis seines unvergleichlichen religiösen Lebens war dieses Bewusstsein von der Gegenwart Gottes; und er gelangte dahin durch intelligentes Beten und aufrichtige Anbetung – ununterbrochene Verbin­dung mit Gott – und nicht durch Direktiven, Stimmen, Visionen oder ausgefallene religiöse Praktiken.

196:0.11

Im irdischen Leben Jesu war die Religion eine lebendige Erfahrung, ein direktes persönliches Übergehen von geistiger Verehrung zu praktischer Rechtschaffenheit. Jesu Glaube brachte die transzendenten Früchte des göttlichen Geistes hervor. Sein Glaube war nicht unreif und leichtgläubig wie der eines Kindes, aber in mancher Hinsicht glich er dem arglosen Vertrauen des kindlichen Gemüts. Jesus vertraute Gott so stark wie ein Kind seinen Eltern. Sein tiefes Vertrauen in das Universum war genau wie das Geborgenheitsgefühl eines Kindes in seiner elterlichen Umgebung. Der von ganzem Herzen kommende Glaube Jesu an die grundlegende Güte des Universums glich sehr stark dem Vertrauen eines Kindes in die Sicherheit seines irdischen Umfeldes. Er verließ sich auf seinen himmlischen Vater wie ein Kind, das sich auf seine irdischen Eltern stützt, und sein glühender Glaube zog auch nicht für einen Augenblick die Gewissheit in Zweifel, dass der himmlische Vater über ihn wachte. Er war nie ernstlich durch Ängste, Zweifel oder Skeptizismus beunruhigt. Kein Unglaube hinderte ihn daran, sich frei und ursprünglich auszudrücken. Er verband den beherzten und intelligenten Mut eines reifen Mannes mit dem aufrichtigen und vertrauensvollen Optimismus eines gläubigen Kindes. Sein Glaube erklomm derartige Höhen des Vertrauens, dass er frei von Furcht war.

196:0.12

Jesu Glaube erreichte die Reinheit des Vertrauens eines Kindes. Sein Glaube war so absolut und so frei von Zweifeln, dass er ebenso auf den Reiz des Umgangs mit seinen Mitmenschen wie auf die Wunder des Universums ansprach. Sein Gefühl, vom Göttlichen abzuhängen, war so vollkommen und vertrauensvoll, dass es ihm die Freude und Gewissheit absoluter persönlicher Sicherheit verschaffte. Es gab in seiner religiösen Erfahrung kein Zaudern, keine Verstellung. In dem riesigen Intellekt dieses voll erwachsenen Menschen herrschte der Glaube eines Kindes unumschränkt in allem vor, was das religiöse Bewusstsein betraf. Es ist nicht verwunderlich, dass er einmal sagte: „Wenn ihr nicht werdet wie ein kleines Kind, werdet ihr nicht in das Königreich eintreten.“ Obwohl Jesu Glaube kindlich war, war er doch in keiner Weise kindisch.

196:0.13

Jesus verlangt von seinen Jüngern nicht, an ihn zu glauben, sondern mit ihm zu glauben, zu glauben an die Realität der Liebe Gottes, und sich in der Gewissheit, Söhne des himmlischen Vaters zu sein, vertrauensvoll aufgehoben zu fühlen. Der Meister wünscht, dass alle, die ihm nachfolgen, ganz seinen transzendenten Glauben mit ihm teilen. Jesus forderte seine Anhänger in höchst bewegender Weise heraus, nicht nur zu glauben, was er glaubte, sondern auch zu glauben, wie er glaubte. Das ist die volle Bedeutung seiner einen, allerhöchsten Aufforderung: „Folge mir.“

196:0.14

Jesu Erdenleben war einem einzigen großen Ziel gewidmet – den Willen des Vaters zu tun, das menschliche Leben religiös und im Glauben zu leben. Jesu Glaube war so vertrauensvoll wie der eines Kindes, aber er war vollkommen frei von jeder Anmaßung. Jesus traf harte und männliche Entscheidungen, blickte mutig mancherlei Enttäuschungen ins Gesicht, überwand entschlossen außerordentliche Schwierigkeiten und stellte sich unerschrocken den harten Forderungen der Pflicht. Es bedurfte eines starken Willens und unerschütterlichen Vertrauens, um zu glauben, was Jesus glaubte und wie er es glaubte.


 
 
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Das Urantia Buch