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Nach Pfingsten

1. Einfluss der Griechen

195:1.1

Die Hellenisierung des Christentums begann recht eigentlich an jenem denkwürdigen Tag, als der Apostel Paulus vor dem Rat des Areopags in Athen stand und zu den Athenern über „den unbekannten Gott“ sprach. Dort, im Schatten der Akropolis, verkündete dieser römische Bürger den Griechen seine Version der neuen Religion, die ihren Ursprung im jüdischen Land Galiläa hatte. Und es gab viele seltsame Übereinstimmungen zwischen der griechischen Philosophie und manchen von Jesu Lehren. Sie hatten ein gemeinsames Ziel – beide strebten das Erwachen des Individuums an , die Griechen das soziale und politische Erwachen, Jesus das sittliche und geistige Erwachen. Die Griechen lehrten intellektuelle Liberalität, die zu politischer Freiheit führt; Jesus lehrte geistige Liberalität, die zu religiöser Freiheit führt. Diese beiden Ideen bildeten zusammen eine neue, mächtige Charta der menschlichen Freiheit; sie ließen die soziale, politische und geistige Freiheit des Menschen erahnen.

195:1.2

Das Christentum verdankt seine Entstehung und seinen Sieg über alle mit ihm konkurrierenden Religionen vor allem zwei Dingen:

195:1.3

1. Der griechische Intellekt war bereit, Anleihen für neue und gute Ideen sogar bei den Juden zu machen.

195:1.4

2. Paulus und seine Nachfolger waren zu klugen und scharfsinnigen Kompromissen bereit; sie beherrschten die Kunst theologischen Verhandelns.

195:1.5

Als Paulus in Athen auftrat und über „Christus und Er, der Gekreuzigte“ predigte, waren die Griechen hungrig nach Geistigem; sie forschten, interessierten sich und hielten wirklich nach geistiger Wahrheit Ausschau. Vergesst nie, dass die Römer zuerst das Christentum bekämpften, während die Griechen es annahmen, und dass es die Griechen waren, die die Römer später buchstäblich zwangen, diese neue nun modifizierte Religion als Teil der griechischen Kultur zu akzeptieren.

195:1.6

Die Griechen verehrten die Schönheit und die Juden die Heiligkeit, aber beide Völker liebten die Wahrheit. Jahrhundertelang hatten die Griechen ernsthaft über alle menschlichen Probleme – soziale, wirtschaftliche, politische und philosophische – nachgedacht und debattiert außer über Religion. Nur wenige Griechen hatten der Religion viel Aufmerksamkeit geschenkt; sie nahmen nicht einmal ihre eigene sehr ernst. Jahrhundertelang hatten die Juden diese anderen Gedankenbereiche vernachlässigt, während ihr ganzes Sinnen auf die Religion gerichtet war. Sie nahmen ihre Religion sehr ernst, zu ernst. Vom Inhalt der Botschaft Jesu erleuchtet, wurde nun das vereinigte Produkt jahrhundertelangen Nachdenkens dieser beiden Völker zur Triebkraft einer neuen Ordnung der menschlichen Gesellschaft und, bis zu einem gewissen Grade, einer neuen Ordnung religiösen Glaubens und Praktizierens der Menschen.

195:1.7

Der Einfluss der griechischen Kultur hatte die Länder des westlichen Mittelmeers bereits durchdrungen, als sich mit Alexander die hellenistische Zivilisation in der nahöstlichen Welt ausbreitete. Die Griechen kamen mit ihrer Religion und Politik gut zurecht, solange sie in kleinen Stadtstaaten wohnten, aber als der mazedonische König sich erkühnte, Griechenland zu einem Weltreich zu erweitern, das sich von der Adria bis zum Indus erstreckte, begannen die Schwierigkeiten. Kunst und Philosophie Griechenlands entsprachen ganz der Aufgabe einer imperialen Expansion, nicht aber griechische politische Verwaltung und Religion. Nachdem sich die Stadtstaaten Griechenlands zu einem Imperium ausgeweitet hatten, nahmen sich ihre eher provinziellen Götter ein bisschen wunderlich aus. Die Griechen waren tatsächlich auf der Suche nach einem Gott, einem größeren und besseren Gott, als die christianisierte Fassung der älteren jüdischen Religion zu ihnen kam.

195:1.8

Das hellenistische Weltreich als solches konnte nicht von Dauer sein. Sein kultureller Einfluss hielt an, aber er konnte nur fortbestehen, weil er sich vom Westen den römischen politischen Genius für die Imperiumsverwaltung gesichert und vom Osten eine Religion erhalten hatte, deren einziger Gott die einem Weltreich anstehende Würde besaß.

195:1.9

Im ersten nachchristlichen Jahrhundert hatte die hellenistische Kultur ihren Höhepunkt bereits erreicht; ihr Rückschritt hatte begonnen; die Bildung nahm zwar zu, aber der Genius verblasste. Gerade in diesem Augenblick steuerten Jesu Ideen und Ideale, die teilweise im Christentum enthalten waren, das ihre zur Rettung der griechischen Kultur und Bildung bei.

195:1.10

Alexander war mit dem kulturellen Geschenk der griechischen Zivilisation nach Osten gestürmt; Paulus eroberte den Westen mit der griechischen Fassung des Jesusevangeliums. Und wo immer sich im Westen die griechische Kultur durchsetzte, schlug auch das hellenisierte Christentum Wurzeln.

195:1.11

Obwohl die östliche Fassung der Botschaft Jesu dessen Lehren treuer blieb, verfolgte sie weiterhin die kompromisslose Richtung Abners. Sie machte nie Fortschritte wie die hellenisierte Fassung und ging schließlich in der islamischen Bewegung auf.


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