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Die Kreuzigung

5. Letzte Stunde am Kreuz

187:5.1

Obwohl es zu dieser Jahreszeit für eine solche Erscheinung früh war, verdunkelte sich der Himmel kurz nach zwölf, weil die Luft voll feinen Sandes war. Die Jerusalemer wussten, dass dies das Nahen eines heißen Sandsturms aus der arabischen Wüste bedeutete. Noch vor ein Uhr war der Himmel so dunkel geworden, dass die Sonne verschwand. Da eilte der Rest der Menge zur Stadt zurück. Als der Meister kurz danach sein Leben aushauchte, waren weniger als dreißig Personen anwesend: lediglich die dreizehn römischen Soldaten und eine Gruppe von etwa fünfzehn Gläubigen. Es waren alles Frauen mit Ausnahme von Jude, Jesu Bruder, und Johannes Zebedäus, die erst unmit­telbar vor dem Verscheiden des Meisters an den Ort des Geschehens zurückkehrten.

187:5.2

Inmitten der zunehmenden Dunkelheit des heftigen Sandsturms begann kurz nach ein Uhr Jesu menschliches Bewusstsein zu schwinden. Er hatte seine letzten Worte des Erbarmens, der Vergebung und der Ermahnung gesprochen. Er hatte seinen letzten Wunsch, der der Betreuung seiner Mutter galt, ausgedrückt. In dieser Stunde des herannahenden Todes nahm Jesu menschlicher Verstand Zuflucht zu der Wiederholung vieler Stellen der hebräischen Schriften, insbesondere der Psalmen. Der letzte bewusste Gedanke des menschlichen Jesus galt der Wiederholung eines Abschnitts aus dem Buch der Psalmen, den man jetzt als zwanzigsten, einundzwanzigsten und zweiundzwanzigsten Psalm kennt. Zwar bewegten sich seine Lippen oft, doch war er zu schwach, um die Worte auszusprechen, während ihm die Stellen, die er so gut auswendig kannte, durch den Sinn gingen. Nur wenige Male fingen die Dabeistehenden einige Worte auf wie: „Ich weiß, dass der Herr seinen Gesalbten retten wird“, „Deine Hand wird all meine Feinde finden“ und „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus hegte auch nicht einen Augenblick lang den leisesten Zweifel daran, in Übereinstimmung mit dem Willen des Vaters gelebt zu haben, und nie zweifelte er daran, dass er jetzt sein irdisches Leben in Übereinstimmung mit seines Vaters Willen ablegte. Er fühlte nicht, dass sein Vater ihn verlassen habe, er sagte nur in seinem schwindenden Bewusstsein viele Schriftstellen her, worunter sich dieser zweiundzwanzigste Psalm befand, der mit „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ beginnt. Und der Zufall wollte es, dass diese Stelle eine von dreien war, die genügend laut gesprochen wurden, um von den Umstehenden vernommen zu werden.

187:5.3

Etwa um halb zwei richtete der sterbliche Jesus die letzte Bitte an seine Mitmenschen, als er zum zweiten Mal sagte: „Ich habe Durst.“ Und derselbe Hauptmann der Wache befeuchtete seine Lippen mit demselben Schwamm, der mit saurem Wein, den man damals gewöhnlich Essig nannte, getränkt war.

187:5.4

Der Sandsturm wurde heftiger und der Himmel verfinsterte sich immer mehr. Dennoch hielten die Soldaten und die kleine Gruppe von Gläubigen aus. Die Soldaten kauerten dicht beieinander neben dem Kreuz, um sich gegen den schneidenden Sand zu schützen. Die Mutter des Johannes und andere schauten aus einer gewissen Entfernung zu, wo ihnen ein überhängender Felsen einigermaßen Schutz bot. Als der Meister endlich seinen letzten Atemzug tat, befanden sich am Fuße seines Kreuzes Johannes Zebedäus, sein Bruder Jude, seine Schwester Ruth, Maria Magdalena und Rebekka, die früher in Sepphoris gewohnt hatte.

187:5.5

Es war gerade etwas vor drei Uhr, als Jesus mit lauter Stimme ausrief: „Es ist vollbracht! Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Und nachdem er so gesprochen hatte, neigte er sein Haupt und gab den Lebenskampf auf. Als der römische Zenturio sah, wie Jesus starb, schlug er sich an die Brust und sagte: „Das war in der Tat ein rechtschaffener Mann; er muss wahrhaftig ein Sohn Gottes gewesen sein.“ Und von jener Stunde an begann er, an Jesus zu glauben.

187:5.6

Jesus starb königlich – so wie er gelebt hatte. Er bekannte sich offen dazu, ein König zu sein, und blieb den ganzen tragischen Tag über Herr der Lage. Er ging willentlich in seinen schändlichen Tod, nachdem er für die Sicherheit seiner auserwählten Apostel gesorgt hatte. Weise hielt er Petrus zurück, als dessen Heftigkeit Schwierigkeiten zu schaffen drohte, und er sorgte dafür, dass Johannes ganz bis zum Ende seiner sterblichen Existenz in seiner Nähe blieb. Er bekannte sich vor dem mörderischen Sanhedrin zu seiner wahren Natur und erinnerte Pilatus an die Quelle seiner souveränen Autorität als ein Sohn Gottes. Seinen eigenen Kreuzesbalken tragend, brach er nach Golgatha auf und beendete seine liebende Selbsthingabe, indem er dem Paradies-Vater seinen Geist, den er als Sterblicher erworben hatte, übergab. Nach einem solchen Leben – und angesichts eines solchen Todes – konnte der Meis­ter wahrlich sagen: „Es ist vollbracht.“

187:5.7

Weil es der Tag der Vorbereitung sowohl auf Passah als auch auf den Sabbat war, wollten die Juden nicht, dass die Leiber auf Golgatha zur Schau gestellt würden. Deshalb gingen sie zu Pilatus und verlangten, dass man den drei Männern die Beine breche und sie töte, um sie von ihren Kreuzen herunternehmen und noch vor Sonnenuntergang in die Totengrube für Verbrecher werfen zu können. Als Pilatus dieses Begehren hörte, schickte er unverzüglich drei Soldaten aus, die Jesus und den zwei Räubern die Beine zu brechen und sie zu töten hatten.

187:5.8

Als die Soldaten auf Golgatha ankamen, führten sie ihren Befehl an den beiden Dieben aus, aber zu ihrer großen Überraschung fanden sie Jesus bereits tot vor. Um jedoch seines Todes sicher zu sein, durchbohrte einer der Soldaten Jesu linke Seite mit seinem Speer. Obwohl die Kreuzigungsopfer sich gewöhnlich sogar zwei bis drei Tage lang lebend am Kreuz dahinquälten, setzten die überwältigende emotionale Pein und die intensive geistige Qual Jesu seinem irdischen Leben in etwas weniger als fünfeinhalb Stunden ein Ende.


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