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Der Prozess vor Pilatus

6. Des Pilatus letzter Appell

185:6.1

An allem, was sich an diesem frühen Freitagmorgen vor Pilatus abspielt, sind nur Jesu Feinde beteiligt. Seine vielen Freunde wissen entweder noch nichts von seiner nächtlichen Verhaftung und seinem frühmorgendlichen Prozess oder sie halten sich versteckt, um nicht selber ebenfalls verhaftet und zum Tode verurteilt zu werden, weil sie an Jesu Lehre glauben. In der Menschenmenge, die jetzt laut nach dem Tod des Meisters ruft, finden sich nur seine geschworenen Feinde und der leicht zu lenkende und gedankenlose Pöbel.

185:6.2

Pilatus wollte einen letzten Appell an ihr Mitleid richten. Da er sich fürchtete, dem Ruf des irregeleiteten Pöbels, der nach Jesu Blut rief, die Stirn zu bieten, gab er den jüdischen Wächtern und den römischen Soldaten den Befehl, Jesus zur Auspeitschung abzuführen. Das war an sich ein ungerechtes und gesetzwidriges Vorgehen, da das römische Recht die Auspeitschung nur für zum Kreuzestod Verurteilte vorsah. Die Wächter führten Jesus für diese Tortur in den offenen Hof des Prätoriums. Seine Feinde waren nicht Zeugen der Geißelung, aber Pilatus wohnte ihr bei, und bevor die Auspeitscher mit ihrer schändlichen Misshandlung zu Ende waren, befahl er ihnen, von ihm abzulassen und gab ihnen einen Wink, Jesus vor ihn zu führen. Bevor die Peiniger Jesus zur Geißelung an einen Pfosten banden und sich mit ihren geknoteten Peitschen über ihn hermachten, legten sie ihm wieder die Purpurrobe an und drückten ihm eine aus Dornen geflochtene Krone auf die Stirn. Und dann gaben sie ihm zum Spott ein Rohr als Szepter in die Hand, knieten vor ihm nieder und verlachten ihn mit den Worten: „Heil dir, König der Juden!“ Und sie bespuckten ihn und schlugen ihm mit den Händen ins Gesicht. Und bevor sie ihn Pilatus zurückgaben, nahm einer von ihnen ihm das Rohr aus der Hand und schlug ihn damit auf den Kopf.

185:6.3

Danach führte Pilatus den blutenden und zerfetzten Gefangenen hinaus, zeigte ihn der gemischten Menge und sagte: „Seht den Menschen! Ich erkläre euch erneut, dass ich kein Verbrechen bei ihm finden kann, und jetzt, da ich ihn habe auspeitschen lassen, möchte ich ihn freigeben.“

185:6.4

Da stand Jesus von Nazareth, mit einem alten purpurnen Königsmantel und einer Dornenkrone angetan, die sich in seine freundliche Stirne bohrte. Sein Gesicht war blutbesudelt, seine Gestalt vor Qual und Schmerz niedergebeugt. Aber nichts vermag die gefühllosen Herzen derer zu bewegen, die Opfer intensiven emotionalen Hasses und Sklaven religiöser Vorurteile sind. Bei diesem Anblick lief ein mächtiger Schauer des Entsetzens durch die Welten eines riesigen Universums, aber die Herzen derer, die zu Jesu Vernichtung entschlossen waren, blieben ungerührt.

185:6.5

Als sie sich vom ersten Schock beim Anblick des Not leidenden Meisters erholt hatten, riefen sie nur umso lauter und anhaltender: „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“

185:6.6

Und jetzt begriff Pilatus, dass es aussichtslos war, an vermutliche Mitleidsregungen zu appellieren. Er trat vor und sagte: „Ich stelle fest, dass ihr entschlossen seid, diesen Mann sterben zu lassen, aber was hat er getan, um den Tod zu verdienen? Wer will sein Verbrechen erläutern?“

185:6.7

Da ging der Hohepriester selber nach vorn, stieg zu Pilatus hinauf und erklärte ungehalten: „Wir haben ein heiliges Gesetz, und nach diesem Gesetz muss dieser Mann sterben, weil er behauptet hat, er sei der Sohn Gottes.“ Als Pilatus das hörte, packte ihn eine noch viel größere Angst, nicht nur vor den Juden, sondern weil er an die Botschaft seiner Frau dachte und an die griechische Mythologie von den Göttern, die zur Erde herabsteigen; und er zitterte jetzt bei dem Gedanken, Jesus könnte am Ende ein göttliches Wesen sein. Er gab der Menge mit einem Wink zu verstehen, sich ruhig zu verhalten, nahm Jesus beim Arm und führte ihn zu weiterer Vernehmung ins Innere des Gebäudes. Die Angst verwirrte jetzt die Gedanken des Pilatus, abergläubische Furcht erfüllte ihn und die Hartnäckigkeit des Mobs saß ihm im Nacken.


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