Als dieser Trupp von Fackeln und Laternen tragenden, bewaffneten Soldaten und Wächtern sich dem Garten näherte, ging Judas der Schar ein gutes Stück voraus, um in der Lage zu sein, Jesus rasch zu identifizieren, so dass die Häscher ihn leicht ergreifen könnten, bevor sich seine Gefährten zu seiner Verteidigung zusammenfänden. Und noch aus einem anderen Grunde zog es Judas vor, den Feinden seines Meisters vorauszueilen: Er dachte, es würde den Anschein erwecken, als treffe er allein, früher als die Soldaten, am Ort des Geschehens ein, so dass die um Jesus gescharten Apostel und Anhänger ihn vielleicht nicht direkt mit der ihm so dicht auf den Fersen folgenden bewaffneten Garde in Verbindung bringen würden. Judas hatte sogar daran gedacht vorzugeben, er sei in der Absicht herbeigeeilt, sie vor der Ankunft der Häscher zu warnen, aber dieser Plan wurde durch die vernichtende Art, wie Jesus den Verräter begrüßte, vereitelt. Obwohl der Meister Judas freundlich anredete, begrüßte er ihn als einen Verräter.
Sobald Petrus, Jakobus, Johannes und etwa dreißig ihrer Lagergefährten den bewaffneten und fackeltragenden Trupp um den Rand des Bergabhangs biegen sahen, war ihnen klar, dass diese Soldaten kamen, um Jesus zu verhaften, und sie stürzten alle zur Ölpresse hinunter, wo der Meister einsam in der mondhellen Nacht saß. Von einer Seite rückte die Kompanie Soldaten heran, von der anderen näherten sich die drei Apostel und ihre Gefährten. Während Judas mit großen Schritten auf den Meister zuging, um ihn anzureden, standen sich die beiden Gruppen regungslos gegenüber, zwischen ihnen der Meister und Judas, der sich anschickte, den verräterischen Kuss auf Jesu Stirne zu drücken.
Der Verräter hatte gehofft, er könnte, nachdem er die Truppe nach Gethsemane geführt hätte, den Soldaten einfach nur zeigen, wer Jesus sei, oder höchstens sein Versprechen einlösen, ihn mit einem Kuss zu begrüßen, und sich dann rasch vom Schauplatz entfernen. Judas befürchtete sehr, die Apostel könnten alle anwesend sein und sich über ihn hermachen zur Bestrafung dafür, dass er es gewagt hatte, ihren geliebten Lehrer zu verraten. Aber als der Meister ihn als Verräter begrüßte, war er so verwirrt, dass er gar keinen Fluchtversuch unternahm.
Jesus machte eine letzte Anstrengung, um Judas davor zu bewahren, ihn wirklich zu verraten, indem er zur Seite trat, noch bevor der Verräter ihn erreichen konnte, und sich an den ersten Soldaten auf der Linken, den Hauptmann der Römer, mit den Worten wandte: „Wen sucht ihr?“ Der Hauptmann antwortete: „Jesus von Nazareth“. Da trat Jesus direkt vor den Offizier, und er stand da mit der ruhigen Majestät des Gottes einer ganzen Schöpfung und sagte: „Ich bin es.“ Viele im bewaffneten Trupp hatten Jesus im Tempel lehren gehört, andere hatten von seinen mächtigen Werken vernommen, und als sie hörten, wie unerschrocken er sich zu erkennen gab, wichen die Männer in der vordersten Reihe unwillkürlich zurück. Überraschung befiel sie bei dieser ruhigen und majestätischen Erklärung seiner Identität. Judas hatte deshalb keine Veranlassung mehr, seinen verräterischen Plan weiter zu verfolgen. Der Meister hatte sich seinen Feinden unerschrocken zu erkennen gegeben, und sie hätten ihn ohne Judas‘ Mithilfe fassen können. Aber der Verräter musste etwas tun, um seine Anwesenheit bei dem bewaffneten Trupp zu rechtfertigen, und überdies wollte er demonstrativ seinen Teil am verräterischen Handel mit den Judenführern bekunden, um dann ein Anrecht auf die große Belohnung und die Ehren zu haben, mit denen man ihn, wie er dachte, überhäufen würde als Entgelt für sein Versprechen, Jesus in ihre Hände zu liefern.
Während die Soldaten ihre Fassung wiedergewannen, die sie bei Jesu Anblick und beim Klang seiner ungewöhnlichen Stimme verloren hatten, und während die Apostel und Jünger nähertraten, schritt Judas auf Jesus zu und sagte, indem er ihm einen Kuss auf die Stirne drückte: „Heil dir, Meister und Lehrer.“ Als Judas seinen Meister in dieser Weise umarmte, sagte Jesus: „Freund, reicht dir dein Tun noch nicht? Willst du den Menschensohn auch noch mit einem Kuss verraten?“
Apostel und Jünger waren bei diesem Anblick buchstäblich betäubt. Einen Augenblick lang regte sich niemand. Dann befreite sich Jesus aus der verräterischen Umarmung durch Judas, schritt auf die Wachen und Soldaten zu und fragte wiederum: „Wen sucht ihr?“ Und wieder sagte der Hauptmann: „Jesus von Nazareth“. Und wieder antwortete Jesus: „Ich habe euch gesagt, dass ich es bin. Wenn ihr also mich sucht, dann lasst die anderen ihrer Wege gehen. Ich bin bereit, mit euch zu gehen.“
Jesus war bereit, mit den Wachen nach Jerusalem zurückzukehren, und der Hauptmann der Soldaten war durchaus gewillt, die drei Apostel und ihre Gefährten in Frieden ihres Weges ziehen zu lassen. Aber noch bevor sie sich in Bewegung setzen konnten und während Jesus dastand und auf die Befehle des Hauptmanns wartete, trat ein gewisser Malchus, syrischer Leibwächter des Hohenpriesters, auf Jesus zu und machte sich daran, ihm die Hände auf den Rücken zu binden, obwohl der römische Hauptmann nicht befohlen hatte, Jesus in dieser Weise zu binden. Als Petrus und seine Gefährten sahen, welcher Schmach ihr Meister unterworfen wurde, vermochten sie sich nicht länger zurückzuhalten. Petrus zog sein Schwert und stürzte sich mit den anderen auf Malchus, um ihn zu schlagen. Aber bevor die Soldaten zur Verteidigung des Dieners des Hohenpriesters herbeieilen konnten, erhob Jesus Einhalt gebietend seine Hand gegen Petrus und sagte in strengem Ton: „Petrus, stecke dein Schwert ein. Wer zum Schwert greift, soll durch das Schwert umkommen. Verstehst du nicht, dass es des Vaters Wille ist, dass ich diesen Kelch trinke? Und weißt du darüber hinaus nicht, dass ich sogar jetzt noch mehr als zwölf Engelslegio-nen samt ihren Mitstreitern aufbieten könnte, die mich aus den Händen dieser wenigen Männer befreien würden?“
Zwar hatte Jesus damit den physischen Widerstand seiner Anhänger erfolgreich beendet, aber es hatte genügt, um im Hauptmann der Garde Furcht zu erregen, der nun Jesus mit harter Hand anfasste und mit Hilfe seiner Soldaten rasch fesselte. Während sie seine Hände mit schweren Stricken banden, sagte Jesus zu ihnen: „Warum zieht ihr mit Schwertern und Stöcken gegen mich aus, als wolltet ihr einen Räuber fassen? Täglich bin ich mit euch im Tempel gewesen und habe die Leute öffentlich gelehrt, und ihr habt nichts unternommen, um mich festzunehmen.“
Nachdem Jesus gefesselt worden war, gab der Hauptmann aus Furcht, die Anhänger des Meisters könnten versuchen, ihn zu befreien, den Befehl, sie festzunehmen; aber die Soldaten waren nicht schnell genug, weil Jesu Anhänger des Hauptmanns Befehl zu ihrer Verhaftung gehört hatten und eiligst in die Schlucht zurück flohen. Die ganze Zeit über war Johannes Markus in der nahen Hütte eingeschlossen geblieben. Als die Wachen sich mit Jesus auf den Rückweg nach Jerusalem machten, versuchte Johannes Markus, sich aus der Hütte zu stehlen, um die fliehenden Apostel und Jünger einzuholen; aber gerade als er heraustrat, kam einer der letzten der zurückkehrenden Soldaten, die die fliehenden Jünger verfolgt hatten, ganz nah vorüber, und als er den jungen Mann in seinem leinenen Mantel erblickte, nahm er seine Verfolgung auf und holte ihn beinahe ein. Tatsächlich kam er nahe genug an Johannes heran, um seinen Mantel zu packen, aber der junge Mann befreite sich von seiner Bekleidung und entwischte nackt, während der Soldat den leeren Mantel in der Hand hielt. So schnell er konnte, lief Johannes Markus zu David Zebedäus auf dem oberen Weg. Nachdem er David berichtet hatte, was geschehen war, eilten sie beide zu den Zelten der schlafenden Apostel zurück und informierten alle acht über den Verrat und die Verhaftung des Meisters.
Etwa zur gleichen Zeit, da sie die acht Apostel weckten, kehrten die, welche in die Schlucht hinauf geflohen waren, zurück, und nun versammelten sich alle in der Nähe der Ölpresse, um zu beraten, was zu tun sei. Unterdessen gingen Simon Petrus und Johannes Zebedäus, die sich zwischen den Olivenbäumen versteckt hatten, schon hinter dem Haufen von Soldaten, Wächtern und Bediensteten her, die Jesus jetzt nach Jerusalem zurückführten, als wäre er ein hoffnungsloser Verbrecher. Johannes ging dicht hinter dem Haufen, aber Petrus folgte erst in großer Entfernung. Nachdem Johannes Markus sich aus dem Griff des Soldaten befreit hatte, fand er im Zelt von Simon Petrus und Johannes Zebedäus einen Mantel und warf sich ihn über. Er vermutete, die Wächter würden Jesus zum Hause des Hannas führen, des Hohenpriesters im Ruhestand; also machte er einen Bogen durch die Olivenhaine und traf noch vor dem Haufen beim Palast des Hohenpriesters ein, wo er sich in der Nähe des Toreingangs versteckte.