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Am Montag in Jerusalem

1. Reinigung des Tempels

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Ein gewaltiger Geschäftsbetrieb hatte sich im Tempel in Verbindung mit den Gottesdiensten und Anbetungszeremonien entwickelt. Da gab es das Geschäft, die verschiedenen Opferhandlungen mit passenden Tieren zu versorgen. Obwohl es jedem Tempelgänger gestattet war, sein eigenes Opfer­tier mitzubringen, blieb doch die Tatsache bestehen, dass dieses von allem „Makel“ frei zu sein hatte im Sinne des levitischen Gesetzes und dessen Auslegung durch die offiziellen Tempelinspektoren. Manch ein Tempelgänger hatte die Demütigung erlebt, dass die Examinatoren des Tempels sein, wie er glaubte, vollkommenes Tier zurückwiesen. Deshalb war es gängige Praxis geworden, die Opfertiere im Tempel zu kaufen, und obgleich es auf dem nahe gelegenen Ölberg mehrere Orte gab, wo man sie erwerben konnte, war es Brauch geworden, diese Tiere direkt aus den Pferchen des Tempels zu kaufen. Nach und nach war es zur Gewohnheit geworden, in den Tempelhöfen alle möglichen Arten von Opfertieren zum Kauf anzubieten. Auf diese Weise war ein ausgedehnter Handel entstanden, bei dem enorme Profite gemacht wurden. Ein Teil dieser Gewinne war für den Tempelschatz bestimmt, aber der größere Teil floss auf Umwegen in die Hände der Familien der regierenden Hohenpriester.

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Dieser Tierverkauf im Tempel florierte, denn wenn der Opfernde ein solches Tier erstand, obwohl dessen Preis recht hoch sein konnte, waren keine weiteren Abgaben zu bezahlen, und er konnte sicher sein, dass sein beabsichtigtes Opfer nicht aufgrund wirklicher oder theoretischer Mängel zurückgewiesen wurde. Von Zeit zu Zeit wurde das gemeine Volk mit ungeheuerlichen Preisaufschlägen gedrückt, insbesondere während der großen nationalen Feste. Einmal gingen die habgierigen Priester so weit, für ein Taubenpaar, das den Armen für einige wenige Pfennige hätte verkauft werden sollen, eine Summe zu verlangen, die dem Wert von einer Woche Arbeit entsprach. Die „Söhne des Hannas“ hatten bereits damit begonnen, ihre Basare im Tempelbezirk zu errichten, eben jene Warenmärkte, die weiter existierten, bis der Pöbel sie endlich drei Jahre vor der Zerstörung des Tempels niederriss.

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Aber der Handel mit Opfertieren und allerlei Waren war nicht die einzige Art, in der die Tempelhöfe entweiht wurden. Zu dieser Zeit wurde ein ausgedehntes System von Bank- und Tauschgeschäften aufgebaut, die direkt im Tempelbezirk abgewickelt wurden. Dazu war es folgendermaßen gekommen: Während der Dynastie der Hasmonäer prägten die Juden ihre eigenen Silbermünzen, und es war Praxis geworden zu verlangen, dass die Tempelgebühr von einem halben Schekel und alle übrigen Tempelabgaben mit dieser jüdischen Münze zu bezahlen seien. Diese Bestimmung machte die Erteilung von Konzessionen an Geldwechsler nötig, um die vielen Geldsorten, die in Palästina und anderen Provinzen des Römischen Reiches im Umlauf waren, gegen diese orthodoxen Schekel jüdischer Prägung einzutauschen. Die Tempelkopfsteuer, die alle mit Ausnahme von Frauen, Sklaven und Minderjährigen zu entrichten hatten, betrug einen halben Schekel, eine ziemlich dicke Münze von zwei Zentimetern Durchmesser. Zur Zeit Jesu waren die Priester auch von der Bezahlung der Tempelabgaben befreit worden. Folglich schlugen beglaubigte Geldwechsler in der Zeit vom 15. bis zum 25. des dem Passahfest vorangehenden Monats in den wichtigsten Städten Palästinas ihre Buden auf, um die jüdischen Bürger mit dem ordnungsgemäßen Geld zu versehen, das diese, einmal in Jerusalem angelangt, zur Entrichtung der Tempelsteuern benötigten. Nach dieser zehntägigen Periode zogen die Geldwechsler nach Jerusalem und stellten ihre Wechseltische in den Tempelhöfen auf. Es war ihnen gestattet, für den Umtausch einer Münze im Wert von etwa zehn Pfennigen eine Kommission von drei bis vier Pfennigen zu erheben, und wenn eine Münze von größerem Wert zum Wechsel angeboten wurde, durften sie das Doppelte kassieren. Desgleichen profitierten diese Bankleute des Tempels vom Wechsel allen Geldes, das zum Kauf von Opfertieren oder zur Bezahlung von Gelübden und für Spenden bestimmt war.

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Die Geldwechsler des Tempels führten nicht nur einen regelrechten Bank­betrieb mit Gewinn aus dem Umtausch von mehr als zwanzig Geldsorten, die die Pilger-Besucher in regelmäßigen Abständen nach Jerusalem brachten, sondern sie beschäftigten sich auch mit sämtlichen anderen zum Bankgeschäft gehörenden Transaktionen. Sowohl der Tempelschatz wie die religiösen Führer profitierten gewaltig von diesen geschäftlichen Aktivitäten. Es war nicht ungewöhnlich, dass der Tempelschatz die Entsprechung von zehn Tonnen Gold enthielt, während das gemeine Volk in Armut darbte und fortfuhr, diese ungerechten Abgaben zu zahlen.

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Inmitten dieses lärmenden Haufens von Geldwechslern, Waren- und Vieh­händlern versuchte Jesus an diesem Montagmorgen das Evangelium vom himmlischen Königreich zu verkündigen. Nicht nur er empörte sich über diese Entheiligung des Tempels: Auch die einfachen Leute und insbesondere die jüdischen Besucher aus ausländischen Provinzen waren echt entrüstet über diese Entweihung ihres nationalen Hauses der Anbetung durch Wuchergeschäfte. Damals hielt auch der Sanhedrin seine ordentlichen Sitzungen in einem Raum ab, der von diesem ganzen Stimmengewirr und Durcheinander von Tausch und Handel umgeben war.

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Als sich Jesus anschickte, mit seiner Rede zu beginnen, ereigneten sich zwei Dinge, die seine Aufmerksamkeit erregten. Am Geldtisch eines nahen Wechslers war ein heftiger und hitziger Streit über eine angeblich zu hohe Geldforderung an einen Juden aus Alexandria ausgebrochen, während im selben Augenblick das Gebrüll einer Herde von gut hundert Ochsen, die von einem Abteil der Tierpferche zum anderen getrieben wurden, die Luft zerriss. Als Jesus innehielt und schweigend, aber nachdenklich dieses Bild der Krämerei und Verwirrung betrachtete, erblickte er ganz in der Nähe einen schlichten Galiläer, einen Mann, mit dem er einst in Iron gesprochen hatte, und der eben jetzt von hochmütigen und sich überlegen wähnenden Judäern verspottet und angerempelt wurde; und all das wirkte zusammen, um in Jesu Seele einen jener seltsamen und periodischen Ausbrüche gefühlsmäßiger Empörung auszulösen.

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Zur Verblüffung seiner Apostel, die nahe dabei standen und davon absahen, sich an dem, was sofort folgen sollte, zu beteiligen, stieg Jesus vom Rednerpodest herab, ging zu dem jungen Burschen hinüber, der das Vieh durch den Hof führte, nahm ihm seine Schnurpeitsche aus der Hand und trieb die Tiere rasch aus dem Tempel hinaus. Aber das war nicht alles: Unter den staunenden Blicken der Tausende, die im Tempelhof versammelt waren, schritt er majestätisch zu dem entferntesten Viehpferch und machte sich daran, die Boxentore eines nach dem anderen zu öffnen und die gefangenen Tiere hinauszutreiben. Jetzt waren die versammelten Pilger wie elektrisiert, und mit lauten Rufen gingen sie auf die Basare los und begannen, die Tische der Geldwechsler umzustürzen. In weniger als fünf Minuten war alles Markttreiben aus dem Tempel gefegt. Bis die in der Nähe befindlichen römischen Wachsoldaten auf dem Schauplatz eintrafen, war alles ruhig, und die Menge war wieder friedlich geworden. Jesus kehrte zum Rednerpodest zurück und sprach zu ihr: „Ihr seid heute Zeugen dessen geworden, was in den Schriften geschrieben steht: ‚Mein Haus soll ein Haus des Gebets für alle Nationen genannt werden, ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht.‘“

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Bevor er noch ein weiteres Wort sprechen konnte, brach die große Versammlung in Hosiannarufe der Lobpreisung aus, und gleich darauf trat eine Schar von Jugendlichen aus der Menge hervor und sang Dankeshymnen zur Würdigung dafür, dass die profanen und gewinnsüchtigen Händler aus dem geheiligten Tempel verjagt worden waren. Inzwischen waren einige Priester am Ort des Geschehens eingetroffen, und einer von ihnen sagte zu Jesus: „Hörst du nicht, was die Kinder der Leviten sagen?“ Und der Meister antwortete: „Hast du nie gelesen: ‚Vollkommen ist das Lob aus dem Munde von kleinen Kindern und Säuglingen gekommen‘?“ Und während Jesus den Rest des Tages über lehrte, wachten durch das Volk bestellte Posten an allen Bogengängen und duldeten nicht einmal, dass jemand ein leeres Gefäß quer durch die Tempelhöfe trug.

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Als die Hohenpriester und Schriftgelehrten von diesen Vorfällen hörten, waren sie sprachlos. Je mehr sie den Meister fürchteten, um so entschlossener wurden sie, ihn umzubringen. Aber sie waren völlig ratlos. Sie wussten nicht, wie sie seinen Tod herbeiführen könnten, denn sie fürchteten sich sehr vor der Menge, die so offen ihre Zustimmung zum Hinauswurf der weltlichen Profitjäger bekundet hatte. Und während dieses ganzen Tages der Ruhe und des Friedens in den Tempelhöfen hörten die Leute der Lehre Jesu zu und hingen förmlich an seinen Lippen.

173:1.10

Dieser überraschende Akt Jesu überstieg das Verständnis seiner Apostel. Sie wurden von dieser plötzlichen und unvorhergesehenen Handlung ihres Meisters derart überrumpelt, dass sie während des ganzen Vorgangs beim Rednerpodest zusammengeschart verharrten und keinen Finger rührten, um die Tempelreinigung zu unterstützen. Hätte sich dieser Aufsehen erregende Vorfall am Tag zuvor ereignet, im Augenblick der triumphalen Ankunft Jesu beim Tempel am Ende seiner tumultartigen Prozession durch die Stadttore und während ihm die Menge fortwährend laut zujubelte, wären sie dazu bereit gewesen, aber die Plötzlichkeit des Geschehens fand sie zur Teilnahme völlig unvorbereitet.

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Die Tempelreinigung zeigt des Meisters Haltung gegenüber der Kommer­zialisierung der Religionspraktiken wie auch seine Abscheu vor allen Formen von Ungerechtigkeit und Profitgier auf Kosten der Armen und Ungebildeten. Diese Episode beweist ebenfalls, dass Jesus die Weigerung missbilligte, zum Schutz der Mehrheit irgendeiner Menschengruppe Gewalt anzuwenden gegen die unfairen und versklavenden Machenschaften ungerechter Minderheiten, die sich hinter politischer, finanzieller oder geistlicher Macht zu verschanzen wissen. Gerissenen, gottlosen und berechnenden Menschen darf nicht gestattet werden, sich zur Ausnutzung und Unterdrückung derer zu organisieren, die aufgrund ihres Idealismus nicht bereit sind, zu ihrem Selbstschutz und zur Förderung ihrer löblichen Lebensprojekte Gewalt anzuwenden.


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