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Die Weihe der Zwölf

5. Väterliche und brüderliche Liebe

140:5.1

Von der Bergpredigt bis zur Rede beim letzten Abendmahl lehrte Jesus seine Anhänger, eher väterliche als brüderliche Liebe zu bekunden. Brüderliche Liebe bedeutet, seinen Nächsten wie sich selber zu lieben, und das wäre eine angemessene Erfüllung der „goldenen Regel“. Aber väterliche Zuneigung verlangt, dass ihr eure Mitmenschen so liebt, wie Jesus euch liebt.

140:5.2

Jesus liebt die Menschheit mit einem zweifachen Gefühl. Er lebte auf Erden als eine doppelte – menschliche und göttliche – Persönlichkeit. Als Gottessohn liebt er den Menschen mit väterlicher Liebe – er ist der Schöpfer des Menschen, sein Vater im Universum. Als Menschensohn liebt Jesus die Sterblichen wie ein Bruder – er war wahrlich ein Mensch unter Menschen.

140:5.3

Jesus erwartete von seinen Anhängern keine unmögliche Bekundung brüderlicher Liebe, aber er erwartete sehr wohl von ihnen, nach Gottähnlichkeit zu streben – vollkommen zu sein, wie der Vater im Himmel vollkommen ist – damit sie beginnen könnten, die Menschen so zu betrachten, wie Gott seine Geschöpfe betrachtet, und folglich auch beginnen könnten, die Menschen so zu lieben, wie Gott sie liebt – die Anfänge einer väterlichen Liebe zu zeigen. Im Laufe dieser Ermahnungen an die zwölf Apostel versuchte Jesus eine Offenbarung dieses neuen Konzeptes väterlicher Liebe in dessen Beziehung zu gewissen gefühlsmäßigen Haltungen, die zahlreiche Anpassungen an das gesellschaftliche Umfeld machen müssen.

140:5.4

Der Meister leitete diese denkwürdige Rede damit ein, dass er die Aufmerk­samkeit auf vier Glaubens haltungen lenkte als Vorspiel zu der dann folgenden Beschreibung von seinen vier transzendenten, alles übersteigenden Reaktionen väterlicher Liebe im Gegensatz zu den Begrenzungen rein brüderlicher Liebe.

140:5.5

Er sprach zuerst von denen, die arm im Geiste sind, die nach Rechtschaffenheit hungern, in Sanftmut ausharren können und reinen Herzens sind. Von solchen den Geist wahrnehmenden Sterblichen kann man erwarten, dass sie jene Ebenen göttlicher Selbstlosigkeit erreichen, die sie dazu befähigen, sich in der erstaunlichen Übung väterlicher Liebe zu versuchen; und dass sie sogar im Leid stark genug sind, Barmherzigkeit zu üben, sich für Frieden einzusetzen und Verfolgungen zu ertragen und in all diesen Prüfungen auch wenig liebenswerte Menschen mit väterlicher Liebe zu lieben. Die Liebe eines Vaters kann Ebenen der Hingabe erreichen, die die Liebe eines Bruders unendlich übersteigen.

140:5.6

Der Glaube und die Liebe dieser Seligpreisungen stärken den sittlichen Charakter und erzeugen Glücklichsein. Furcht und Ärger schwächen den Charakter und zerstören das innere Glück. Der Beginn dieser denkwürdigen Predigt war auf Glückseligkeit gestimmt.

140:5.7

1. „Selig sind die Armen im Geiste – die Demütigen.“ Für ein Kind bedeutet Glück die Stillung des Verlangens nach sofortigem Vergnügen. Der Erwachsene ist gewillt, Samen der Selbstverleugnung zu säen, um spätere Ernten vermehrten Glücks einzubringen. Zu Jesu Zeiten und seither ist Glück allzu oft mit der Vorstellung vom Besitz von Reichtum in Verbindung gebracht worden. In der Geschichte von dem Pharisäer und dem Zöllner, die im Tempel beteten, fühlte sich der eine reich im Geiste – er war von sich selbst eingenommen; der andere fühlte sich „arm im Geiste“ – er war demütig. Der eine war dünkelhaft; der andere war belehrbar und auf der Suche nach der Wahrheit. Die Armen im Geiste suchen Ziele geistigen Reichtums – sie suchen Gott. Und solche Wahrheitssucher brauchen nicht auf Belohnungen in einer fernen Zukunft zu warten; sie werden jetzt belohnt. Sie finden das Königreich des Himmels in ihren eigenen Herzen, und sie erleben diese Glückseligkeit jetzt.

140:5.8

2. „Selig sind, die nach Rechtschaffenheit hungern und dürsten, denn sie sollen gesättigt werden.“ Nur die, die sich arm im Geiste fühlen, wird es je nach Rechtschaffenheit hungern. Nur die Demütigen suchen nach göttlicher Kraft und sehnen sich nach geistiger Macht. Aber es ist äußerst gefährlich, sich wissentlich in geistigem Fasten zu üben, um seinen Appetit auf geistige Gaben zu vergrößern. Physisches Fasten wird nach vier oder fünf Tagen gefährlich; man neigt dazu, jeden Wunsch nach Nahrung zu verlieren. Längeres Fasten, sei es physisch oder geistig, hat die Tendenz, den Hunger zu vernichten.

140:5.9

Gelebte Rechtschaffenheit ist eine Freude, keine Pflicht. Jesu Rechtschaf­fenheit ist eine dynamische Liebe – eine väterlich-brüderliche Zuneigung. Sie ist nicht die negative oder Du-sollst-nicht-Art von Rechtschaffenheit. Wie könnte man nach etwas Negativem hungern – nach etwas, das man „nicht tun soll“?

140:5.10

Es ist nicht so einfach, einem kindlichen Verstand diese ersten beiden Seligpreisungen zu erklären, aber der reife Verstand sollte ihre Bedeutung erfassen.

140:5.11

3. „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie sollen die Erde erben.“ Echte Sanftmut hat mit Furcht nichts zu tun. Sie ist eher die Haltung eines mit Gott zusammenarbeitenden Menschen – „Dein Wille geschehe.“ Sie schließt Geduld und Nachsicht ein und wird angetrieben durch einen unerschütterlichen Glauben an ein gesetzmäßiges und freundliches Universum. Sie wird aller Versuchungen Herr, sich gegen die göttliche Führung aufzulehnen. Jesus war der ideale sanftmütige Mensch von Urantia, und er erbte ein riesiges Universum.

140:5.12

4. „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Geistige Reinheit ist keine negative Qualität, außer dass sie ohne Argwohn und Rachegefühle ist. Als er von der Reinheit sprach, hatte Jesus nicht ausschließlich die menschliche Haltung zur Sexualität im Sinn. Er dachte mehr an das Vertrauen, das der Mensch zu seinem Mitmenschen haben sollte; an jenes Vertrauen, das Eltern in ihr Kind setzen, und das ihm die Fähigkeit verleiht, seine Mitmenschen so zu lieben, wie ein Vater sie lieben würde. Die Liebe eines Vaters braucht nicht zu verwöhnen und übersieht das Üble nicht, aber sie ist nie zynisch. Väterliche Liebe hat nur ein einziges Ziel und sucht immer nach dem Besten im Menschen; dies ist die Haltung wahrer Eltern.

140:5.13

Gott zu sehen – durch den Glauben – bedeutet, wahre geistige Erkennt­nis zu erwerben. Geistige Erkenntnis steigert die Führung durch den Gedanken­justierer, und beide zusammen erweitern schließlich das Gottesbewusstsein. Und wenn ihr den Vater kennt, werdet ihr in der Gewissheit göttlicher Sohn­schaft bestärkt und zunehmend fähig, jeden eurer irdischen Brüder zu lieben, nicht nur als Bruder – mit brüderlicher Liebe – sondern auch als ein Vater – mit väterlichem Gefühl.

140:5.14

Es ist leicht, dies sogar ein Kind zu lehren. Kinder sind von Natur aus vertrauensvoll, und die Eltern sollten darüber wachen, dass sie diesen einfachen Glauben nicht verlieren. Vermeidet im Umgang mit Kindern jegliche Täuschung und hütet euch, Misstrauen zu säen. Helft ihnen weise bei der Wahl ihrer Helden und ihrer Lebensarbeit.

140:5.15

Und dann ging Jesus dazu über, seine Jünger in der Verwirklichung des Hauptziels allen menschlichen Ringens zu unterrichten – in der Vollkom­menheit, ja sogar in göttlichem Vollbringen. Immer wieder erinnerte er sie: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Er ermahnte die Zwölf nicht, ihre Nächsten wie sich selber zu lieben. Das wäre eine würdige Leistung gewesen; es hätte bedeutet, dass sie brüderliche Liebe erreicht hatten. Er rief seine Apostel vielmehr dazu auf, die Menschen so zu lieben, wie er sie geliebt hatte – mit väterlichem und brüderlichem Gefühl zu lieben. Und er veranschaulichte dies, indem er vier allerhöchste Reaktionen väterlicher Liebe besonders hervorhob:

140:5.16

1. „Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden.“ Sogenannter gesunder Menschenverstand oder beste Logik würden nie behaupten, Glück könne aus Leid entstehen. Aber Jesus bezog sich nicht auf äußeres oder zur Schau getragenes Trauern. Er spielte auf eine gefühlsmäßige Haltung der Weichherzigkeit an. Es ist ein großer Irrtum, Knaben und junge Männer zu lehren, es sei unmännlich, Zärtlichkeit zu zeigen oder sich irgendwelche anderen Gefühlsregungen oder körperliches Leiden anmerken zu lassen. Mitgefühl ist ein achtbares Attribut sowohl des Männlichen als auch des Weiblichen. Es ist nicht nötig, gefühllos zu werden, um männlich zu sein. Das ist der falsche Weg, um mutige Männer zu erzeugen. Die großen Männer der Welt schämten sich nicht, traurig zu sein. Moses, der Trauernde, war ein größerer Mann als sogar Samson oder Goliath. Moses war ein großartiger Anführer, aber er war auch ein sanfter Mann. Feinfühlig zu sein und auf menschliche Not anzusprechen, schafft echtes und dauerhaftes Glück, während eine solche freundliche Einstellung die Seele vor den zerstörerischen Einflüssen des Zorns, des Hasses und des Argwohns bewahrt.

140:5.17

2. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erhalten.“ Barmherzigkeit bezeichnet hier die ganze Höhe und Tiefe und Breite wahrster Freundschaft – liebevolle Güte. Barmherzigkeit kann manchmal passiv sein, hier aber ist sie aktiv und dynamisch – höchste Väterlichkeit. Liebenden Eltern fällt es nicht schwer, ihrem Kind sogar viele Male zu vergeben. Und ein nicht verwöhntes Kind hat den natürlichen Drang, Leiden zu lindern. Kinder sind normalerweise freundlich und mitfühlend, wenn sie alt genug sind, um reale Situationen zu erfassen.

140:5.18

3. „Selig sind die Friedensstifter, denn man wird sie die Söhne Gottes nennen.“ Jesu Zuhörer sehnten sich nach militärischer Befreiung, nicht nach Friedensstiftern. Aber Jesu Frieden ist nicht pazifistischer und negativer Art. Angesichts von Prüfungen und Verfolgungen sagte er: „Ich lasse euch meinen Frieden.“ „Lasst euer Herz nicht betrübt sein und lasst es keine Angst haben.“ Dies ist der Friede, der verheerende Konflikte verhindert. Persönlicher Friede eint die Persönlichkeit. Sozialer Friede verhindert Angst, Habgier und Zorn. Politischer Friede verhindert Rassenfeindschaft, nationale Verdächtigungen und Krieg. Friedensstiftung heilt von Misstrauen und Argwohn.

140:5.19

Man kann Kinder leicht dazu anhalten, als Friedensstifter zu wirken. Sie haben Freude an Gruppenaktivitäten; sie spielen gern zusammen. Bei anderer Gelegenheit sagte der Meister: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, aber wer bereit ist, es zu verlieren, wird es finden.“

140:5.20

4. „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Königreich des Himmels. Selig seid ihr, wenn die Menschen euch schmähen und verfolgen und gegen euch hinterhältig allerlei Übles reden. Frohlocket und seid über die Maßen glücklich, denn groß wird euer Lohn im Himmel sein.“

140:5.21

So oft folgt auf Frieden Verfolgung. Aber junge Leute und tapfere Erwa­chsene schrecken nie vor Schwierigkeiten oder Gefahren zurück. „Kein Mensch hat mehr Liebe, als der, der sein Leben für seine Freunde hingibt.“ Väterliche Liebe kann all diese Dinge aus freien Stücken tun – Dinge, die brüderliche Liebe kaum einzuschliessen vermag. Und Verfolgung hat letzten Endes immer Fortschritt zum Ergebnis gehabt.

140:5.22

Kinder antworten stets, wenn ihr Mut herausgefordert wird. Die Jugend ist immer bereit, eine Herausforderung anzunehmen. Und jedes Kind sollte früh lernen, Opfer zu bringen.

140:5.23

Aus all dem wird offenbar, dass die Seligpreisungen der Bergpredigt auf Glauben und Liebe fußen und nicht auf dem Gesetz – auf Moral und Pflicht.

140:5.24

Väterliche Liebe findet höchste Freude daran, Böses mit Gutem zu vergelten – Gutes zu tun als Antwort auf Ungerechtigkeit.


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