Da es zu regnen begonnen hatte, unterrichtete Jesus an jenem Abend im Hause. Er sprach sehr ausführlich und versuchte den Zwölfen zu zeigen, was sie sein sollten, nicht was sie tun sollten. Sie kannten nur eine Religion, die das Tun bestimmter Dinge als Mittel auferlegte, um Rechtschaffenheit – Errettung – zu erlangen. Aber Jesus wiederholte ständig: „Im Königreich müsst ihr rechtschaffen sein, um die Arbeit zu tun.“ Viele Male wiederholte er: „Seid deshalb vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Unermüdlich erklärte der Meister seinen verwirrten Aposteln, dass die Errettung, die er der Welt zu bringen gekommen war, nur durch den Glauben, durch einfaches und aufrichtiges Vertrauen zu haben war. Jesus sagte: „Johannes predigte eine Taufe der Buße, der Reue über die alte Lebensweise. Ihr sollt die Taufe der Gemeinschaft mit Gott verkünden. Predigt denen Buße, denen solche Predigt Not tut, aber öffnet jenen, die schon ehrlich ins Königreich einzutreten begehren, die Tore weit und heißt sie, in die frohe Gemeinschaft der Söhne Gottes einzutreten.“ Aber es war eine schwierige Aufgabe, diese galiläischen Fischer davon zu überzeugen, dass im Königreich Rechtschaffen sein durch den Glauben rechtschaffenem Tun im täglichen Leben der Sterblichen vorausgehen muss.
Eine andere große Erschwernis bei der Aufgabe, die Zwölf zu unterweisen, war ihre Neigung, hochgeistige und idealistische Prinzipien religiöser Wahrheit zu nehmen und sie in konkrete Regeln persönlichen Verhaltens umzuwandeln. Jesus zeigte ihnen stets den schönen Geist der Seelenhaltung, aber sie bestanden darauf, solche Lehren in persönliche Verhaltensregeln zu übersetzen. Oft, wenn sie sicher sein wollten zu behalten, was der Meister gesagt hatte, vergaßen sie fast mit Sicherheit, was er nicht gesagt hatte. Aber langsam nahmen sie seine Lehre auf, weil Jesus all das war, was er lehrte. Was sie seinem mündlichen Unterricht nicht entnehmen konnten, erlangten sie nach und nach durch ihr Zusammenleben mit ihm.
Es blieb den Aposteln verborgen, dass ihr Meister ein Leben geistiger Inspiration für jede Person jedes Zeitalters auf jeder Welt eines weit ausgedehnten Universums lebte. Ungeachtet dessen, was Jesus ihnen von Zeit zu Zeit sagte, erfassten die Apostel die Idee nicht, dass er zwar sein Werk auf dieser Welt, aber für alle anderen Welten seiner unermesslichen Schöpfung tat. Jesus lebte sein irdisches Leben auf Urantia nicht, um den Männern und Frauen dieser Welt ein persönliches Beispiel sterblichen Lebens zu geben, sondern vielmehr, um für alle sterblichen Wesen auf allen Welten ein hohes geistiges und inspirierendes Ideal zu schaffen.
An demselben Abend fragte Thomas Jesus: „Meister, du sagst, wir müssen wie kleine Kinder werden, bevor wir Einlass in des Vaters Königreich erlangen, und doch hast du uns davor gewarnt, uns nicht durch falsche Propheten täuschen zu lassen, noch uns schuldig zu machen, unsere Perlen vor die Säue zu werfen. Ich bin ehrlich verwirrt. Ich kann deine Lehre nicht verstehen.“ Jesus antwortete Thomas: „Wie lange soll ich Geduld mit euch haben! Immer besteht ihr darauf, alles, was ich lehre, wörtlich zu nehmen. Als ich von euch verlangte, als Preis für den Eintritt ins Himmelreich wie kleine Kinder zu werden, bezog ich mich nicht auf die Leichtigkeit, getäuscht zu werden, oder auf die bloße Bereitschaft zu glauben, noch auf die Übereiltheit, angenehmen Fremden zu vertrauen. Mein Wunsch war, ihr würdet diesem Beispiel die Vater-Kind-Beziehung entnehmen. Du bist das Kind, und du möchtest in deines Vaters Königreich eintreten. Zwischen jedem normalen Kind und seinem Vater herrscht eine natürliche Zuneigung, die eine verstehende und liebende Beziehung sicherstellt und für immer jeden Hang ausschließt, um des Vaters Liebe und Barmherzigkeit zu feilschen. Und das Evangelium, das ihr verkündigen geht, hat mit Errettung zu tun, die aus der gläubigen Verwirklichung eben dieser ewigen Kind-Vater-Beziehung erwächst.“
Das besondere Merkmal von Jesu Lehre war, dass die Sittlichkeit seiner Philosophie ihren Ursprung in der persönlichen Beziehung des Einzelnen zu Gott – eben in dieser Kind-Vater-Beziehung – hatte. Jesus legte den Akzent auf den Einzelnen, nicht auf die Rasse oder die Nation. Während des Abendessens führte Jesus mit Matthäus ein Gespräch, in dessen Verlauf er erklärte, dass die Sittlichkeit jeder Handlung durch die Beweggründe des Individuums bestimmt wird. Jesu Sittlichkeit war stets positiv. Die goldene Regel in der Neuformulierung durch Jesus verlangt aktiven gesellschaftlichen Kontakt; die ältere negative Regel konnte auch in der Isolation befolgt werden. Jesus entkleidete die Sittlichkeit aller Regeln und Zeremonien und erhob sie zu den majestätischen Höhen geistigen Denkens und wahrhaft rechtschaffenen Lebens.
Diese neue Religion Jesu war natürlich nicht ohne ihre praktischen Auswirkungen, aber was immer man an praktischen politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Werten in seiner Lehre finden kann, ist natürlicher Ausfluss dieser inneren Erfahrung der Seele, die aus echtem, persönlichem religiösem Erleben heraus im spontanen täglichen Dienen die Früchte des Geistes zeigt.
Nachdem Jesus und Matthäus ihr Gespräch beendet hatten, fragte Simon Zelotes: „Aber, Meister, sind alle Menschen Söhne Gottes?“ Und Jesus gab zur Antwort: „Jawohl, Simon, alle Menschen sind Söhne Gottes, und das ist die gute Nachricht, die ihr jetzt verkünden werdet.“ Aber die Apostel konnten eine solche Lehre nicht fassen; es war eine neue, seltsame und verblüffende Erklärung. Und weil es Jesu Wunsch war, ihnen diese Wahrheit tief einzuprägen, lehrte er seine Anhänger, alle Menschen wie ihre Brüder zu behandeln.
Als Antwort auf eine Frage von Andreas machte der Meister klar, dass die Sittlichkeit seiner Lehre nicht von der Religion seines Lebens zu trennen war. Er lehrte Sittlichkeit nicht ausgehend von der Natur des Menschen, sondern ausgehend von der Beziehung des Menschen zu Gott.
Johannes fragte Jesus: „Meister, was ist das Königreich des Himmels?“ Und Jesus antwortete: „Das Königreich des Himmels besteht aus diesen drei wesentlichen Dingen: Erstens, der Anerkennung der Tatsache der Souveränität Gottes; zweitens, dem Glauben an die Wahrheit, ein Sohn Gottes zu sein; und drittens: aus dem Vertrauen in die Wirksamkeit des allerhöchsten menschlichen Begehrens, den Willen Gottes zu tun – wie Gott zu sein. Und dies ist die gute Nachricht des Evangeliums: dass jeder Sterbliche durch den Glauben alle diese für die Errettung wesentlichen Dinge haben kann.“
Und nun war die Woche des Wartens vorüber, und sie machten sich bereit, am nächsten Morgen nach Jerusalem aufzubrechen.
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