Die Wartezeit ersteckte sich über vier lange Monate – März, April, Mai und Juni; Jesus hatte mit seinen sechs Mitarbeitern und seinem eigenen Bruder Jakobus über hundert lange und ernsthafte, wiewohl heitere und fröhliche Zusammenkünfte. Infolge Krankheit in seiner Familie war Jude nur selten in der Lage, an diesen Unterrichtsstunden teilzunehmen. Jakobus, Jesu Bruder, verlor seinen Glauben an ihn nicht, aber während dieser Monate untätigen Abwartens verzweifelte Maria beinahe an ihrem Sohn. Ihr Glaube, der in Kana solche Höhen erreicht hatte, sank zu neuen Tiefen ab. Sie fiel wieder in ihren so oft wiederholten Ausruf zurück: „Ich kann ihn einfach nicht verstehen. Ich begreife nicht, was das alles bedeuten soll.“ Aber die Frau von Jakobus tat viel, um Marias Mut aufrecht zu erhalten.
Während dieser vier Monate lernten die sieben Gläubigen, wovon einer sein leiblicher Bruder war, Jesus näher kennen. Sie wurden mit der Vorstellung vertraut, mit diesem Gottmenschen zusammenzuleben. Obwohl sie ihn Rabbi nannten, lernten sie, keine Angst vor ihm zu haben. Jesus besaß eine unvergleichliche persönliche Anmut, die ihm erlaubte, so unter ihnen zu leben, dass seine Göttlichkeit sie nicht erschreckte. Es fiel ihnen wirklich leicht, „mit Gott befreundet zu sein“, einem Gott in sterblichem Gewande. Diese Wartezeit stellte die ganze Gruppe der Gläubigen auf eine harte Probe. Nichts, aber auch gar nichts Wunderbares geschah. Tag für Tag machten sie sich an ihre gewohnte Arbeit, während sie Abend für Abend Jesu zu Füßen saßen. Sie wurden durch seine unvergleichliche Persönlichkeit zusammengehalten und durch die begnadeten Worte, die er Abend für Abend zu ihnen sprach.
Diese Zeit des Wartens und Unterrichts fiel Simon Petrus besonders schwer. Zu wiederholten Malen versuchte er Jesus zu überzeugen, in Galiläa mit der Verkündigung des Königreichs zu beginnen, während Johannes in Judäa zu predigen fortfuhr. Aber Jesus gab Petrus immer zur Antwort: „Sei geduldig, Simon. Mache Fortschritte. Wir werden kein bisschen zu früh bereit sein, wenn der Vater ruft.“ Und Andreas wirkte dann und wann mit seinem reiferen und philosophischen Rat beruhigend auf Petrus ein. Die menschliche Natürlichkeit Jesu machte auf Andreas einen gewaltigen Eindruck. Er wurde nie müde darüber nachzudenken, wie einer, der in solcher Gottnähe lebte, gleichzeitig gegenüber den Menschen so freundlich und aufmerksam sein konnte.
Während dieser ganzen Zeitspanne ergriff Jesus in der Synagoge nur zweimal das Wort. Am Ende dieser vielen Wochen des Wartens war es um die Berichte über seine Taufe und den Wein von Kana langsam ruhiger geworden. Und Jesus achtete darauf, dass während dieser Zeit keine weiteren scheinbaren Wunder geschahen. Aber obwohl sie so still in Bethsaida lebten, waren Herodes Antipas Berichte über die seltsamen Taten Jesu hinterbracht worden, und er sandte nun Kundschafter aus, um zu ermitteln, was Jesus vorhatte. Die Predigten des Johannes beunruhigten ihn allerdings weit mehr. Er beschloss, Jesus, der in Kapernaum so unauffällig wirkte, unbehelligt zu lassen.
In dieser Wartezeit bemühte sich Jesus darum, seinen Mitarbeitern beizubringen, wie sie sich gegenüber den verschiedenen religiösen Gruppierungen und politischen Parteien Palästinas verhalten sollten. Jesu Worte waren immer: „Wir wollen versuchen, sie alle zu gewinnen, aber wir gehören keiner von ihnen an.“
Die Schriftgelehrten und Rabbis wurden unter dem Sammelbegriff Pharisäer bezeichnet. Sie selber nannten sich die „Vereinten“. In mancher Beziehung waren sie die progressive Gruppe unter den Juden, denn sie hatten viele nicht eindeutig in den hebräischen Schriften vorhandene Lehren wie zum Beispiel den Glauben an die Auferstehung der Toten angenommen, eine Lehre, die erst von Daniel, einem späteren Propheten, erwähnt worden war.
Die Sadduzäer setzten sich aus der Priesterschaft und gewissen reichen Juden zusammen. Sie nahmen es mit den Einzelheiten der Anwendung des Gesetzes nicht so genau. Die Pharisäer und Sadduzäer waren eher religiöse Parteien als Sekten.
Die Essener waren eine echte religiöse Sekte, die während der makkabäischen Erhebung entstanden war und deren Anforderungen in einigen Punkten anspruchsvoller waren als die der Pharisäer. Sie hatten viele persische Glaubensanschauungen und Bräuche übernommen, lebten unverheiratet als Bruderschaft in Klöstern und besaßen alles gemeinsam. Ihr besonderes Interesse galt den Lehren über die Engel.
Die Zeloten waren eine Gruppe glühender jüdischer Patrioten. Sie vertraten den Standpunkt, dass sich jedwede Methode im Kampf um die Befreiung vom römischen Joch rechtfertigen lasse.
Die Herodianer waren eine rein politische Partei, die für die Loslösung von der direkten römischen Herrschaft durch die Wiedereinsetzung der herodianischen Dynastie eintrat.
Im Herzen Palästinas lebten die Samaritaner, „mit denen die Juden nichts zu schaffen hatten“, obwohl sie viele mit den jüdischen Lehren verwandte Ansichten vertraten.
Alle diese Parteien und Sekten einschließlich der kleineren Bruderschaft der Nasiräer glaubten, dass der Messias irgendwann kommen würde. Sie alle hielten nach einem nationalen Befreier Ausschau. Aber Jesus machte unmissverständlich klar, dass weder er noch seine Jünger sich je mit einer dieser Schulen praktischer oder geistiger Richtung verbünden würden. Der Menschensohn würde weder ein Nasiräer noch ein Essener sein.
Als Jesus seine Apostel später aufforderte, sich wie Johannes aufzumachen, um das Evangelium zu predigen und die Gläubigen zu unterweisen, legte er das Schwergewicht auf die Verkündigung der „guten Nachricht vom Königreich des Himmels“. Unablässig prägte er seinen Mitarbeitern ein, sie sollten „Liebe, Erbarmen und Mitgefühl“ zeigen. Schon früh lehrte er seine Anhänger, dass das Königreich des Himmels eine geistige Erfahrung im Zusammenhang mit dem Einzug Gottes in die Herzen der Menschen sei.
Während dieser Wartezeit vor dem Beginn des aktiven öffentlichen Predigens verbrachte Jesus mit den Sieben wöchentlich zwei Abende in der Synagoge beim Studium der hebräischen Schriften. In späteren Jahren schauten die Apostel nach Zeiten intensiver Öffentlichkeitsarbeit auf diese vier Monate als auf die kostbarsten und nützlichsten ihrer ganzen Zusammenarbeit mit dem Meister zurück. Jesus lehrte diese Männer alles, was sie aufzunehmen in der Lage waren. Er beging nicht den Fehler, ihnen zu viel beibringen zu wollen. Er stiftete keine Verwirrung durch Vermittlung von Wahrheiten, die zu weit über ihrem Fassungsvermögen gelegen hätten.