Um diese Zeit kamen Jesus und Maria viel besser miteinander zurecht. Sie betrachtete ihn weniger als einen Sohn; er war für sie mehr ein Vater ihrer Kinder geworden. Jeden Tag tauchten ungezählte praktische, unmittelbare Schwierigkeiten auf. Sie sprachen seltener von seinem Lebenswerk, da sie sich im Laufe der Zeit mit ihrem ganzen Denken gemeinsam dem Unterhalt und der Erziehung ihrer Familie von vier Knaben und drei Mädchen widmeten.
Mit Beginn dieses Jahres hatte Jesus seine Mutter ganz für seine Methode der Kindererziehung gewonnen – der positiven Aufforderung, Gutes zu tun, anstelle der älteren jüdischen Methode, die verbot, Böses zu tun. Zu Hause und während seiner öffentlichen Lehrtätigkeit gebrauchte Jesus stets die positive Form der Aufforderung. Immer und überall sagte er: „Ihr sollt dies tun – ihr solltet das tun.“ Nie benutzte er die negative Lehrweise, die sich von den alten Tabus herleitete. Er hütete sich davor, das Üble durch Verbieten zu betonen, und er stellte vielmehr das Gute höher, indem er seine Ausübung verlangte. Die Gebetszeit war in diesem Hause die Gelegenheit, über alles und jedes zu diskutieren, was das Wohl der Familie betraf.
Jesus begann, seine Brüder und Schwestern in einem so frühen Alter weise zur Disziplin anzuhalten, dass es nur geringer oder gar keiner Bestrafung bedurfte, um ihren unverzüglichen und unbedingten Gehorsam zu erreichen. Die einzige Ausnahme bildete Jude, den Jesus verschiedentlich wegen seiner Verstöße gegen die Hausregeln zu strafen für nötig befand. Bei drei Gelegenheiten, als eine Bestrafung von Jude weise erschien, weil er zugab, Familienverhaltensregeln vorsätzlich verletzt zu haben, setzten die älteren Kinder mit einstimmigem Beschluss die Strafe fest, und Jude stimmte ihr zu, bevor sie vollzogen wurde.
Obgleich Jesus in allem, was er tat, sehr methodisch und systematisch vorging, gab es doch bei seiner Lenkung der häuslichen Angelegenheiten eine erfrischende Flexibilität der Interpretation und eine individuelle Anpassung, die alle Kinder durch den Geist der Gerechtigkeit beeindruckte, der ihren Vater-Bruder bewegte. Er bestrafte seine Geschwister nie willkürlich, und eine solche gleichbleibende Fairness und das Eingehen auf die einzelne Persönlichkeit machten Jesus seiner ganzen Familie sehr lieb.
Die heranwachsenden Brüder Jakobus und Simon versuchten, der Methode Jesu zu folgen, ihre kampfeslustigen und manchmal wütenden Spielkameraden durch Überzeugung und Widerstandslosigkeit zu besänftigen. Das gelang ihnen recht gut; aber Joseph und Jude, die solchen Lehren zu Hause zwar zustimmten, verteidigten sich augenblicklich, sobald sie von ihren Kameraden angegriffen wurden; insbesondere machte sich Jude der Verletzung des Geistes dieser Lehren schuldig. Aber die Widerstandslosigkeit war keine Familienregel. Die Zuwiderhandlung gegen persönliche Unterweisung zog keine Bestrafung nach sich.
Im Allgemeinen holten sich alle Kinder, und besonders die Mädchen, in ihren kindlichen Nöten bei Jesus Rat und setzten ihr Vertrauen in ihn wie in einen liebenden Vater.
Jakobus entwickelte sich zu einem ausgeglichenen jungen Mann von ruhiger Gemütsart, aber er fühlte sich weniger zu Geistigem hingezogen als Jesus. Er war ein viel besserer Schüler als Joseph, der, obschon ein zuverlässiger Arbeiter, Geistigem gegenüber noch weniger aufgeschlossen war. Joseph war ein Arbeitstier und erreichte das intellektuelle Niveau der übrigen Kinder nicht. Simon war ein gutartiger Knabe, aber allzu sehr Träumer. Er brauchte lange, um im Leben zurechtzukommen und bereitete Jesus und Maria beträchtliche Sorgen. Aber er war immer ein guter Junge voll guten Willens. Jude war ein Unruhestifter. Er hatte die höchsten Ideale, aber ein wechselhaftes Temperament. Er besaß die Entschiedenheit und Dynamik seiner Mutter sogar noch in erhöhtem Maße, hingegen mangelte es ihm sehr an ihrem Sinn für Maß und Zurückhaltung.
Miriam war eine ausgeglichene, klar denkende Tochter mit einem ausgesprochenen Gespür für erhebende und geistige Dinge. Martha war langsam in ihrem Denken und Handeln, aber ein sehr zuverlässiges und tüchtiges Kind. Die kleine Ruth war der Sonnenschein des Hauses. Obwohl sie gedankenlos daherredete, war sie von ganzem Herzen aufrichtig. Sie vergötterte ihren großen Bruder und Vater nahezu. Aber man verwöhnte sie nicht. Sie war ein schönes Kind, aber doch nicht ganz so attraktiv wie Miriam, die die Schönheit der Familie, wenn nicht der Stadt, war.
Im Lauf der Jahre tat Jesus viel, um die in der Familie gültigen, die Einhaltung des Sabbats betreffenden Lehren und Gebräuche und viele andere Vorschriften der Religion zu lockern und abzuändern; und zu all diesen Neuerungen gab Maria ihre volle Zustimmung. Um diese Zeit war Jesus unbestrittenes Haupt des Hauses geworden.
In diesem Jahr begann Jude mit der Schule, und Jesus sah sich gezwungen, seine Harfe zu verkaufen, um die Kosten bestreiten zu können. Und damit verschwand auch die letzte seiner der Entspannung dienenden Freuden. Er liebte es sehr, auf der Harfe zu spielen, wenn sein Geist und Körper müde waren, aber er tröstete sich bei dem Gedanken, dass die Harfe so wenigstens davor sicher war, dem Steuereinzieher in die Hände zu fallen.