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Die Jünglingsjahre

3. Das achtzehnte Jahr (12 n. Chr.)

127:3.1

Im Laufe dieses Jahres wurde mit Ausnahme von Haus und Garten der gesamte Familienbesitz veräußert. Ihr letzes, schon unter Hypothek stehendes Grundstück in Kapernaum wurde verkauft (mit Ausnahme eines Anteils an einem anderen). Der Erlös wurde zur Bezahlung der Steuern, zum Kauf einiger neuer Werkzeuge für Jakobus und zu einer Anzahlung an den alten Ausrüstungs- und Reparaturladen der Familie nahe des Karawanenplatzes verwendet, den zurückzukaufen Jesus sich jetzt vornahm, da Jakobus alt genug war, um in der Heimwerkstatt zu arbeiten und Maria im Haus zur Hand zu gehen. Dadurch hatte der finanzielle Druck vorübergehend nachgelassen, und Jesus entschied, Jakobus zum Passahfest mitzunehmen. Sie brachen einen Tag zu früh nach Jerusalem auf, um allein zu sein, und gingen durch Samarien. Auf ihrer Wanderung erzählte Jesus Jakobus von den historischen Stätten, so wie sein Vater es ihn fünf Jahre zuvor auf einer ebensolchen Reise gelehrt hatte.

127:3.2

Auf ihrem Weg durch Samarien bot sich ihnen manch befremdlicher Anblick. Wäh­rend dieser Reise sprachen sie über viele ihrer Probleme persönlicher, familiärer und nationaler Art. Jakobus war ein sehr religiös veranlagter Junge, und obwohl er mit seiner Mutter in Bezug auf das Wenige, das er über die Pläne für Jesu Lebens­werk wusste, nicht ganz übereinstimmte, so freute er sich doch auf die Zeit, da er die Verantwortung für die Familie zu übernehmen imstande wäre und Jesus mit seiner Mission beginnen könnte. Er war sehr glücklich darüber, dass Jesus ihn zur Passahfeier mitnahm, und sie sprachen ausgiebiger über die Zukunft als je zuvor.

127:3.3

Jesus dachte viel nach, während sie durch Samarien zogen, insbesondere in Betel und als er aus dem Jakobsbrunnen trank. Er und sein Bruder besprachen die Überlieferungen von Abraham, Isaak und Jakob. Er bemühte sich sehr, Jakobus auf das, was er in Jerusalem bald erleben würde, vorzubereiten, um dadurch den Schock, wie er ihn selbst anlässlich seines ersten Tempelbesuchs erfahren hatte, zu mildern. Aber Jakobus reagierte nicht so sensibel beim Anblick einiger dieser Szenen. Er kommentierte die routinemäßige und herzlose Art, in der einige Priester ihres Amtes walteten, insgesamt aber empfand er sehr große Freude über seinen Aufenthalt in Jerusalem.

127:3.4

Jesus nahm Jakobus zum Passahabendessen nach Bethanien mit. Simon war neben seinen Vorfahren zur Ruhe gebettet worden, und Jesus, der das Passahlamm vom Tempel mitgebracht hatte, saß als Haupt der Passahfamilie bei Tische vor.

127:3.5

Nach dem Passahmahl schickte sich Maria an, mit Jakobus zu plaudern, während sich Martha, Lazarus und Jesus bis tief in die Nacht hinein unterhielten. Am näch­sten Tag wohnten sie den Gottesdiensten im Tempel bei, und Jakobus wurde in die Gemeinschaft Israels aufgenommen. Als sie an diesem Morgen auf dem Kamm des Ölbergs Halt machten, um auf den Tempel zu schauen, blickte Jesus schweigend auf Jerusalem hinab, während Jakobus sein Staunen laut hinausrief. Jakobus konnte das Verhalten seines Bruders nicht verstehen. An diesem Abend gingen sie wieder nach Bethanien zurück und wären am nächsten Tag nach Hause aufgebrochen, hätte Jakobus nicht darauf gedrungen, den Tempel auf dem Rückweg noch einmal zu besuchen, und erklärt, er wolle gerne die Lehrer hören. Obgleich das der Wahrheit entsprach, so war doch sein geheimer Herzenswunsch, nach allem, was seine Mutter ihm erzählt hatte, zu erleben, wie Jesus sich an den Diskussionen beteiligte. Also gingen sie zum Tempel und hörten sich die Diskussionen an, aber Jesus stellte keine Fragen. All dies schien seinem erwachenden menschlichen und göttlichen Bewusstsein so kindisch und unbedeutend – es erregte nur sein Mitleid. Jakobus war enttäuscht, dass Jesus nichts sagte. Auf seine forschenden Fragen gab Jesus nur zur Antwort: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“

127:3.6

Am nächsten Tag machten sie sich auf den Heimweg über Jericho und das Jordantal, und Jesus erzählte unterwegs vieles, unter anderem von seiner früheren Reise, als er mit dreizehn Jahren denselben Weg gegangen war.

127:3.7

Nach ihrer Rückkehr nach Nazareth begann Jesus in der alten Reparatur­werkstatt der Familie zu arbeiten und war hocherfreut darüber, jeden Tag so viele Leute aus allen Landesteilen und den umliegenden Gegenden zu treffen. Jesus liebte die Menschen wahrhaftig, und gerade die ganz einfachen Leute. Jeden Monat entrichtete er seine Zahlung für die Werkstatt und fuhr fort, mit Jakobus‘ Hilfe für die Familie zu sorgen.

127:3.8

Mehrere Male im Jahr las Jesus am Sabbat in der Synagoge aus den Schriften, wenn keine Besucher für dieses Amt da waren, und gab häufig Erläuterungen zu den gelesenen Stellen; aber meistens wählte er die Abschnitte so, dass sich ein Kommentar erübrigte. Er war geschickt darin, die Reihenfolge der verschiedenen vorgelesenen Stellen so auszuwählen, dass eine die andere erhellte. Sofern das Wetter es erlaubte, unterließ er es nie, am Sabbatnachmittag mit seinen Brüdern und Schwestern in der Natur herumzustreifen.

127:3.9

Um diese Zeit rief der Chazan einen philosophischen Debattierklub für junge Männer ins Leben, der sich jeweils bei einem der Mitglieder und oft in seinem eigenen Hause traf, und Jesus wurde ein führendes Mitglied dieser Gruppe. Dadurch gelang es ihm, etwas von seinem lokalen Ansehen zurückzugewinnen, das er während der unlängst erfolgten nationalistischen Auseinandersetzungen eingebüßt hatte.

127:3.10

Obwohl sein geselliges Leben eingeschränkt war, vernachlässigte er es nicht ganz. Er hatte viele Freunde, die ihm sehr zugetan waren, und viele treue Bewunderer sowohl unter den jungen Männern wie jungen Frauen Nazareths.

127:3.11

Im September kamen Elisabeth und Johannes die Familie in Nazareth besuchen. Johannes, der seinen Vater verloren hatte, beabsichtigte, in die Berge Judäas zurückzukehren und sich der Landwirtschaft und Schafzucht zu widmen, es sei denn, Jesus riete ihm, in Nazareth zu bleiben und mit dem Zimmermannshandwerk oder irgendeiner anderen Arbeit zu beginnen. Johannes und seine Mutter wussten nicht, dass die Familie von Nazareth so gut wie mittellos war. Je länger Maria und Elisabeth über ihre Söhne sprachen, umso stärker wurde ihre Überzeugung, dass es für die beiden jungen Männer gut wäre, gemeinsam zu arbeiten und sich häufiger zu sehen.

127:3.12

Jesus und Johannes führten viele Gespräche miteinander; sie redeten über einige sehr vertrauliche und persönliche Angelegenheiten. Am Ende dieses Besuches beschlossen sie, einander nicht eher wiederzusehen, als bis „der himmlische Vater sie riefe“, an ihre Arbeit zu gehen, und sie sich während ihres öffentlichen Wirkens wiederbegegneten. Johannes war von dem, was er in Nazareth sah, so tief beeindruckt, dass er beschloss, heimzukehren und für den Unterhalt seiner Mutter zu arbeiten. Er gelangte zur Überzeugung, dass er bestimmt sei, ein Teil von Jesu Lebenssendung zu werden, sah aber zugleich, dass Jesus noch auf Jahre hinaus mit dem Großziehen seiner Familie beschäftigt sein würde. Umso williger kehrte er deshalb nach Hause zurück, um sich um seinen kleinen Bauernhof zu kümmern und für den Unterhalt seiner Mutter zu sorgen. Und nie sahen Johannes und Jesus einander wieder bis zu jenem Tag, als Jesus am Jordan erschien, um sich taufen zu lassen.

127:3.13

Am 3. Dezember dieses Jahres, einem Samstagnachmittag, suchte der Tod die Familie von Nazareth zum zweiten Mal heim. Ihr kleiner Bruder Amos starb, nachdem er eine Woche lang mit hohem Fieber gelegen hatte. Nachdem Maria diese schmerzvolle Zeit mit ihrem erstgeborenen Sohn als einziger Stütze durchgemacht hatte, erkannte sie Jesus endlich voll und ganz als wirkliches Familienoberhaupt an; und er war in der Tat ein würdiges Haupt.

127:3.14

Während vier Jahren war ihr Lebensstandard dauernd gesunken. Jahr für Jahr fühlten sie, wie ihre Armut immer drückender wurde. Am Ende dieses Jahres erlebten sie einen der schwierigsten Augenblicke ihres ganzen mühseligen Ringens. Jakobus verdiente noch nicht viel, und ob der Ausgaben für ein Begräbnis, die zu allem anderen noch hinzukamen, wurde ihnen schwindlig. Aber Jesus sagte zu seiner besorgten und schmerzerfüllten Mutter nur: „Mutter Maria, Kummer wird uns nicht helfen; wir tun alle unser Bestes, und vielleicht würde das Lächeln unserer Mutter uns sogar noch zu Besserem anspornen. Tag für Tag werden wir für unsere Aufgaben durch die Hoffnung auf kommende bessere Zeiten gestärkt.“ Sein unerschütterlicher und praktischer Optimismus wirkte wahrhaftig ansteckend; alle Kinder lebten in einer Atmosphäre der Erwartung besserer Zeiten und Dinge. Und dieser hoffnungsvolle Mut trug trotz ihrer bedrückenden Armut kräftig zur Entwicklung starker und edler Charaktere bei.

127:3.15

Jesus besaß die Fähigkeit, all seine Verstandes-, Seelen- und Körperkräfte für die unmittelbar zu bewältigende Aufgabe einzusetzen. Er konnte seinen tief denkenden Verstand auf das eine Problem konzentrieren, das er lösen wollte; und dies, zusammen mit seiner unermüdlichen Geduld, befähigte ihn, die Prüfungen einer schwierigen sterblichen Existenz heiteren Sinnes zu ertragen – zu leben, als „sähe er Ihn, der unsichtbar ist“.


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