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Die frühe Kindheit Jesu

5. Schulzeit in Nazareth

123:5.1

Jesus hatte jetzt mit sieben Jahren das Alter erreicht, in dem die jüdischen Kinder offiziell ihre Erziehung in den Synagogenschulen zu beginnen hatten. Folglich trat er im August dieses Jahres seine bewegte Schulzeit in Nazareth an. Schon las, schrieb und sprach dieser Knabe fließend zwei Sprachen, das Aramäische und das Griechische. Er hatte sich nun an die Aufgabe zu machen, die hebräische Sprache lesen, schreiben und sprechen zu lernen. Er war wirklich begierig auf das neue Schulleben, das da vor ihm lag.

123:5.2

Drei Jahre lang, bis er zehn war, besuchte Jesus die Grundschule der Synagoge von Nazareth. Während dieser drei Jahre studierte er die Anfangs­gründe des Gesetzbuches, wie es in hebräischer Sprache überliefert war. In den folgenden drei Jahren studierte er in der Schule für Fortgeschrittene die tieferen Lehren des heiligen Gesetzes und lernte sie durch die Methode der lauten Wiederholung auswendig. Er machte seinen Abschluss an dieser Synagogen­schule während seines dreizehnten Lebensjahres und wurde seinen Eltern von den Leitern der Synagoge als ein ausgebildeter „Sohn des Gebotes“ übergeben, der von nun an ein verantwortlicher Bürger der Gemeinschaft Israels war, was notwendigerweise seine Anwesenheit am Passahfest in Jerusalem erforderte. So wohnte er in jenem Jahr, von seinen Eltern begleitet, zum ersten Mal dem Passahfest bei.

123:5.3

In Nazareth saßen die Schüler in einem Halbkreis am Boden, während der Chazan, ihr Lehrer, ein Angestellter der Synagoge, ihnen gegenüber saß. Sie begannen mit dem Levitikus und gingen dann zum Studium der anderen Bücher des Gesetzes über, dem sich das Studium der Propheten und der Psalmen anschloss. Die Synagoge von Nazareth besaß ein vollständiges Exemplar der Schriften auf Hebräisch. Vor dem zwölften Lebensjahr wurde nichts anderes als die Schriften studiert. In den Sommermonaten war die Unterrichtszeit beträchtlich kürzer.

123:5.4

Jesus wurde früh ein Meister im Hebräischen, und als jungen Mann bat man ihn oft, der gläubigen Gemeinde während der ordentlichen Sabbatgottesdienste aus den hebräischen Schriften vorzulesen, wenn sich gerade kein Besucher von Bedeutung in Nazareth aufhielt.

123:5.5

Diese Synagogenschulen verfügten natürlich über keine Lehrbücher. Um zu unterrichten, machte der Chazan eine Aussage, und die Schüler sprachen sie alle miteinander nach. Wenn sie zu den geschriebenen Gesetzbüchern Zugang hatten, lernten sie den Stoff durch lautes Lesen und fortwährende Wiederholung.

123:5.6

Zusätzlich zu seiner mehr formalen Schulung begann Jesus, mit der Natur des Menschen aller vier Himmelsrichtungen der Erde Bekanntschaft zu machen, da in seines Vaters Reparaturwerkstatt Menschen aus vielen Ländern ein- und ausgingen. Als er älter wurde, mischte er sich frei unter die Karawanen, wenn sie, um sich auszuruhen und zu verpflegen, in der Nähe des Brunnens Halt machten. Da er fließend Griechisch sprach, fiel es ihm nicht schwer, sich mit der Mehrzahl der Karawanenreisenden und -führer zu unterhalten.

123:5.7

Nazareth war Rastplatz an der Karawanenstraße, Kreuzungspunkt vieler Reiserouten, und hatte eine zum großen Teil heidnische Bevölkerung; auch war es weithin bekannt als Zentrum einer freien Auslegung des althergebrachten jüdischen Gesetzes. In Galiläa mischten sich die Juden freier unter die Heiden, als es in Judäa üblich war. Und von allen Städten Galiläas waren die Juden von Nazareth diejenigen, die die freieste Auslegung der sozialen Einschränkungen hatten, welche auf der Furcht vor Ansteckung durch Kontakt mit den Heiden beruhten. All dies war der Grund, weshalb man in Jerusalem zu sagen pflegte: „Kann irgendetwas Gutes aus Nazareth kommen?“

123:5.8

Jesus erhielt seine sittliche Schulung und geistige Kultur hauptsächlich in seinem eigenen Heim. Seine intellektuelle und theologische Erziehung empfing er zum großen Teil vom Chazan. Aber seine eigentliche Erziehung – jene Ausrüstung von Verstand und Herz für die wirkliche Prüfung in der Auseinander­setzung mit den schwierigen Lebensproblemen – erlangte er, indem er sich unter seine Mitmenschen mischte. Und gerade diese enge Verbindung zu seinen Mitmenschen, Jungen und Alten, Juden und Heiden, verschaffte ihm die Möglich­keit, die menschliche Rasse kennen zu lernen. Jesus war hochgebildet in dem Sinne, dass er die Menschen durch und durch verstand und sie mit Hingabe liebte.

123:5.9

Während seiner Synagogenjahre war er ein glänzender Schüler, der den großen Vorteil besaß, drei Sprachen zu beherrschen. Anlässlich des Abschlusses der Studien Jesu an seiner Schule bemerkte der Chazan von Nazareth zu Joseph, er fürchte, „von den tiefschürfenden Fragen Jesu mehr gelernt zu haben“, als er „imstande gewesen war, dem Jungen beizubringen“.

123:5.10

Jesus lernte viel während seiner Studienzeit, und die regelmäßigen Sabbat­predigten in der Synagoge waren für ihn eine große Quelle der Inspiration. Man pflegte bedeutende Besucher, die sich den Sabbat über in Nazareth aufhielten, zu bitten, das Wort in der Synagoge zu ergreifen. Während Jesus heranwuchs, hörte er viele große Denker aus der ganzen jüdischen Welt ihre Ansichten darlegen, unter ihnen viele kaum orthodoxe Juden, da die Synagoge von Nazareth ein fortschrittliches und aufgeschlossenes Zentrum hebräischer Denkweise und Kultur war.

123:5.11

Wenn sie mit sieben Jahren in die Schule eintraten (gerade in dieser Zeit hatten die Juden ein obligatorisches Erziehungsgesetz eingeführt), war es üblich, dass die Schüler ihren „Geburtstagstext“ auswählten, eine Art goldener Regel, die sie während ihrer Studien leiten sollte und über die sie sich anlässlich ihres Schulabschlusses mit dreizehn Jahren oft ausführlich ausließen. Der von Jesus gewählte Text stammte vom Propheten Jesaja: „Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, dass ich den Demütigen gute Botschaft bringe und all jene heile, die gebrochenen Herzens sind, den Unterdrückten Freiheit verkünde und die geistig Gefangenen befreie.“

123:5.12

Nazareth war eines der vierundzwanzig Priesterzentren der hebräischen Nation. Aber die galiläische Priesterschaft war in der Auslegung der traditionellen Gesetze großzügiger als die judäischen Schriftgelehrten und Rabbiner. Und in Nazareth waren sie auch in der Beachtung des Sabbats weniger streng. Deshalb pflegte Joseph an Sabbatnachmittagen Jesus auf Spaziergänge mitzunehmen. Einer ihrer bevorzugten Ausflüge war die Besteigung der in der Nähe ihres Heimes liegenden Anhöhe, von wo aus sie einen Rundblick über ganz Galiläa genossen. An klaren Tagen konnten sie im Nordwesten die lange, zum Meer abfallende Kammlinie des Berges Karmel sehen; und viele Male hörte Jesus seinen Vater die Geschichte von Elias erzählen, eines der ersten in der langen Reihe hebräischer Propheten, der den Achab angeklagt und die Priester des Baal entlarvt hatte. Im Norden ragte am Horizont der schneebedeckte Gipfel des Hermon in majestätischer Pracht empor und beherrschte den Horizont. Auf seinen oberen Hängen glänzte das Weiß des ewigen Schnees auf einer Länge von über einem Kilometer. Weit im Osten konnten sie das Jordantal unterscheiden, und noch viel weiter dahinter lagen die felsigen Berge des Moabs. Auch vermochten sie im Süden und Osten die griechisch-römischen Städte der Dekapolis mit ihren Amphitheatern und anmaßenden Tempeln zu sehen, wenn die Sonne ihre Marmormauern beschien. Und wenn sie bis gegen Sonnenuntergang verweilten, konnten sie im Westen auf dem fernen Mittelmeer die Segelschiffe ausmachen.

123:5.13

Nach vier Richtungen hin konnte Jesus beobachten, wie die Karawanenzüge ihren Weg nach Nazareth hinein und wieder hinaus nahmen, und gegen Süden konnte er das weite und fruchtbare Flachland Esdraelon überschauen, das sich bis zum Berg Gilboa und nach Samarien erstreckte.

123:5.14

Wenn sie nicht die Höhen bestiegen, um in die Ferne zu schauen, streiften sie durch das Land und beobachteten die mit den Jahreszeiten wechselnden Stimmungen der Natur. Jesu früheste Schulung, abgesehen von jener, die er zu Hause empfing, bestand aus einem ehrfürchtigen und innigen Kontakt mit der Natur.

123:5.15

Noch bevor er acht Jahre zählte, kannten ihn alle Mütter und jungen Frauen von Nazareth, die ihn am Dorfbrunnen getroffen und mit ihm gesprochen hatten. Der Brunnen befand sich nicht weit von seinem Zuhause und war eines der geselligen Zentren der Stadt, wo man sich zum Schwatzen traf. In diesem Jahr lernte Jesus die Familienkuh melken und die anderen Tiere versorgen. Während dieses und des folgenden Jahres lernte er auch das Zubereiten von Käse und das Weben. Mit zehn Jahren war er bereits ein geschickter Arbeiter am Webstuhl. Ungefähr zu dieser Zeit wurden Jesus und der Nachbarjunge Jakob enge Freunde des Töp­fers, der bei der sprudelnden Quelle arbeitete. Wenn sie zuschauten, wie Nathans flinke Finger den Ton auf der Töpferscheibe formten, beschlossen sie beide mehrmals, später einmal Töpfer zu werden. Nathan fasste eine große Zuneigung zu den Knaben und gab ihnen oft Ton zum Spielen. Er versuchte, ihre schöpferische Vorstellungskraft anzuregen, indem er sie anspornte, verschiedene Gegenstände und Tiere um die Wette zu modellieren.


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