Die Heiden waren zwar von einem sittlichen Standpunkt aus betrachtet den Juden etwas unterlegen, aber in den Herzen ihrer edleren Vertreter war im Überfluss ein Boden an natürlicher Güte und verborgener menschlicher Zuneigung vorhanden, auf dem es der Saat des Christentums möglich war, zu keimen und reiche Ernte an sittlichen Charakteren und geistiger Verwirklichung zu bringen. Vier große Philosophien, welche sich alle mehr oder minder aus dem früheren Platonismus der Griechen ableiteten, waren damals in der heidnischen Welt vorherrschend. Diese philosophischen Schulen waren folgende:
1. Die Epikuräer. Diese geistige Richtung widmete sich der Suche nach dem Glück. Die besseren Epikuräer gaben sich keinen sinnlichen Exzessen hin. Wenigstens half diese Doktrin, die Römer von einer eher verhängnisvollen Art von Fatalismus zu befreien. Sie lehrte, dass die Menschen etwas tun können, um ihre irdische Lage zu verbessern, und sie bekämpfte wirksam den unwissenden Aberglauben.
2. Die Stoiker. Der Stoizismus war die höhere Philosophie der gehobenen Klassen. Die Stoiker glaubten, ein lenkendes, vernünftiges Schicksal beherrsche die ganze Natur. Sie lehrten, dass die Seele des Menschen göttlich sei, aber im schlechten Körper physischer Natur gefangen gehalten werde, und dass sie durch ein Leben in Harmonie mit der Natur, mit Gott, zur Freiheit gelange. So wurde die Tugend zu ihrer eigenen Belohnung. Der Stoizismus erhob sich zu einer sublimen Sittlichkeit und zu Idealen, welche seither nie von irgendeinem rein menschlichen philosophischen System übertroffen worden sind. Obgleich die Stoiker verkündeten, „von Gott abzustammen“, gelang es ihnen nicht, Gott zu kennen, und deshalb auch nicht, zu ihm zu finden. Der Stoizismus blieb eine Philosophie und wurde nie zu einer Religion. Seine Anhänger bemühten sich, ihr Denken auf die Harmonie des Universalen Verstandes einzustimmen, aber es war ihnen versagt, sich selber als die Kinder eines liebenden Vaters zu sehen. Paulus lehnte sich stark an den Stoizismus an, als er schrieb: „Ich habe gelernt, in welcher Lage ich mich auch immer befinden mag, mit dieser zufrieden zu sein.“
3. Die Kyniker. Obwohl die Kyniker ihre Philosophie auf Diogenes von Athen zurückführten, bezogen sie viel von ihrer Lehre aus den Überresten der Unterweisungen von Machiventa Melchisedek. Der Zynismus war früher mehr eine Religion als eine Philosophie gewesen. Wenigstens machten die Kyniker ihre religiöse Philosophie demokratisch. Auf dem Land und auf den Marktplätzen verkündeten sie fortwährend ihre Lehre, dass „der Mensch sich retten könnte, wenn er nur wollte“. Sie predigten Einfachheit und Tugend und legten den Menschen nahe, dem Tod ohne Furcht zu begegnen. Diese kynischen Wanderprediger taten viel, um das nach Geistigem hungernde Volk auf die späteren christlichen Missionare vorzubereiten. Ihre Art der volkstümlichen Predigt glich von Anlage und Stil her stark den Briefen des Paulus.
4. Die Skeptiker. Der Skeptizismus erklärte, dass alles Wissen trügerisch und dass Überzeugung und Gewissheit unmöglich seien. Es war eine rein negative Haltung, die nie weite Verbreitung fand.
Diese Philosophien waren halbreligiös. Sie waren oft stärkend, ethisch und veredelnd, aber für das einfache Volk meist zu schwierig. Der Zynismus vielleicht ausgenommen, waren es Philosophien für die Starken und Weisen, aber keine Religionen, die auch den Armen und Schwachen das Heil bringen konnten.