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Die wahre Natur der Religion

2. Die Tatsache der Religion

101:2.1

Die Tatsache der Religion besteht ganz und gar in der religiösen Erfahrung durchschnittlicher vernünftiger Menschenwesen. Und dies ist der einzige Sinn, in dem Religion je als wissenschaftlich oder gar psychologisch angesehen werden kann. Und ebendiese Tatsache menschlicher Erfahrung ist der Beweis, dass Offenbarung wirklich Offenbarung ist: die Tatsache, dass Offenbarung effektiv die scheinbar auseinanderklaffenden Naturwissenschaften und die Theologie der Religion miteinander in einer harmonischen und folgerichtigen Univer­sumsphilosophie versöhnt, in einer koordinierten und ununterbrochenen Erklärung von Wissenschaft und Religion, und dadurch den Verstand mit Harmonie und den Geist mit Befriedigung erfüllt, was in menschlicher Erfahrung die Fragen des sterblichen Verstandes beantwortet, der sich danach sehnt zu wissen, wie der Unendliche seinen Willen und seine Pläne in der Materie, mit den Intelligenzen und im Geistigen ausführt.

101:2.2

Die Vernunft ist die Methode der Wissenschaft, der Glaube ist die Methode der Religion; die Logik ist die Technik, welche die Philosophie anzuwen­den versucht. Offenbarung kommt für die Abwesenheit des morontiellen Gesichts­punktes auf, indem sie eine Technik liefert, um durch Vermittlung des Verstandes im Verständnis der Realität von Materie und Geist und ihrer gegen­­seitigen Beziehungen eine Einheit herzustellen. Und wahre Offenbarung macht die Wissenschaft nie unnatürlich, die Religion unvernünftig oder die Philosophie unlogisch.

101:2.3

Durch das Studium der Wissenschaft kann die Vernunft vielleicht den Weg durch die Natur bis zu einer Ersten Ursache zurückverfolgen, aber es braucht den religiösen Glauben, um die Erste Ursache der Wissenschaft in einen Gott der Errettung zu verwandeln; und weiter braucht es Offenbarung, um einen solchen Glauben, eine solche geistige Schau gültig zu erklären.

101:2.4

Es gibt zwei fundamentale Gründe, um an einen Gott zu glauben, der das menschliche Fortleben begünstigt:

101:2.5

1. Die menschliche Erfahrung, persönliche Gewissheit, eine durch den innewohnenden Gedankenjustierer ausgelöste, irgendwie verspürte Hoffnung und Zuversicht.

101:2.6

2. Die Offenbarung der Wahrheit, sei es durch direktes persönliches Wirken des Geistes der Wahrheit, durch die Selbsthingabe göttlicher Söhne an die Welt oder durch Offenbarungen des geschriebenen Wortes.

101:2.7

Die Wissenschaft beendet ihre vernünftige Suche mit der Hypothese einer Er­sten Ursache. Die Religion bricht ihren Flug des Glaubens nicht ab, bevor sie eines Gottes der Errettung sicher ist. Das eingehende Studium der Wissenschaft legt logischerweise die Realität und Existenz eines Absoluten nahe. Die Religion glaubt rückhaltlos an Existenz und Realität eines Gottes, der sich des Fortlebens der Persönlichkeit annimmt. Was der Metaphysik völlig misslingt und sogar der Philosophie teilweise misslingt, schafft die Offenbarung; d. h. sie erklärt, dass die Erste Ursache der Wissenschaft und der rettende Gott der Religion ein und dieselbe Gottheit sind.

101:2.8

Die Vernunft ist das Beweismittel der Wissenschaft, der Glaube das Beweis­mittel der Religion, die Logik das Beweismittel der Philosophie, aber einzig menschliche Erfahrung verleiht der Offenbarung Gültigkeit. Wissenschaft schenkt Wissen; Religion schenkt inneres Glück; Philosophie schenkt Einheit; Offen­barung bestätigt die erfahrungsmäßige Harmonie dieser dreifachen Annäherung an die universale Realität.

101:2.9

Die Betrachtung der Natur kann einzig einen Gott der Natur, einen Gott der Bewegung, offenbaren. Die Natur lässt nur Materie, Bewegung und Belebtheit – Leben – erkennen. Materie plus Energie manifestiert sich unter bestimmten Umständen in lebendigen Formen, aber obwohl das natürliche Leben solcherweise ein relativ kontinuierliches Phänomen ist, ist es, was Individualitäten anbelangt, völlig vergänglich. Die Natur bietet keinen Ansatzpunkt für einen logischen Glauben an das Fortleben der menschlichen Persönlichkeit. Ein religiöser Mensch, der Gott in der Natur findet, hat denselben persönlichen Gott schon zuvor in seiner eigenen Seele gefunden.

101:2.10

Der Glaube offenbart Gott in der Seele. Die Offenbarung, die auf einer evolutionären Welt die morontielle Schau ersetzt, befähigt den Menschen, in der Natur denselben Gott zu erkennen, den der Glaube ihm in seiner Seele enthüllt. In dieser Art schlägt Offenbarung mit Erfolg eine Brücke über den Abgrund zwischen dem Materiellen und dem Geistigen, ja zwischen Geschöpf und Schöpfer, zwischen Mensch und Gott.

101:2.11

Die Betrachtung der Natur weist logischerweise in Richtung einer intelligenten Lenkung, sogar einer lebendigen Überwachung, aber sie offenbart in keiner irgendwie befriedigenden Weise einen persönlichen Gott. Andererseits findet sich in der Natur nichts, was einen daran hindern könnte, das Universum als das Werk des Gottes der Religion anzusehen. Gott kann durch die Natur allein nicht gefunden werden, aber wenn der Mensch ihn auf anderem Weg gefunden hat, wird das Studium der Natur ganz und gar mit einer höheren und geistigeren Interpretation des Universums vereinbar.

101:2.12

Offenbarung als epochales Phänomen ist periodisch; als persönliche menschliche Erfahrung geschieht sie fortlaufend. Die Göttlichkeit wirkt in der sterblichen Persönlichkeit als das Justierer-Geschenk des Vaters, als Geist der Wahrheit des Sohnes und als Heiliger Geist des Universumsgeistes, während diese drei übermenschlichen Begabungen in der erfahrungsmäßigen menschlichen Evolution geeint sind als das Wirken des Supremen.

101:2.13

Wahre Religion ist ein Einblick in die Realität, sie ist das Glaubenskind des sittlichen Bewusstseins und nicht nur eine intellektuelle Zustimmung zu einer Sammlung dogmatischer Lehrsätze. Wahre Religion besteht in der Erfahrung, dass „der Geist selber mit unserem Geist bezeugt, dass wir Kinder Gottes sind“. Religion besteht nicht aus theologischen Lehrsätzen, sondern in geistiger Erkennt­nis und in der Sublimität des Vertrauens der Seele.

101:2.14

Eure tiefste Natur – der göttliche Justierer – schafft in euch Hunger und Durst nach Rechtschaffenheit, eine gewisse Sehnsucht nach göttlicher Vollkom­menheit. Religion ist der Glaubensakt, der diesem inneren Drängen nach göttlicher Vollbringung Rechnung trägt; und so entstehen in der Seele jenes Vertrauen und jene Gewissheit, deren ihr euch als des Weges der Errettung bewusst werdet, als der Technik des Fortlebens der Persönlichkeit und all jener Werte, die ihr als wahr und gut angenommen habt.

101:2.15

Die Verwirklichung der Religion ist nie von großer Gelehrsamkeit oder gescheiter Logik abhängig gewesen und wird es nie sein. Sie ist eine geistige Schau, und das ist gerade der Grund, weshalb einige der größten religiösen Lehrer und auch die Propheten manchmal so wenig von der Weisheit der Welt besessen haben. Religiöser Glaube steht Gebildeten und Ungebildeten gleichermaßen zur Verfügung.

101:2.16

Die Religion muss stets ihr eigener Kritiker und Richter sein; sie kann von außen nie beobachtet und noch viel weniger verstanden werden. Eure einzige Gewissheit von einem persönlichen Gott besteht in eurem eigenen Tiefblick, was euren Glauben an geistige Dinge und eure Erfahrung damit angeht. All jene eurer Mitmenschen, die eine ähnliche Erfahrung gemacht haben, brauchen keine Argumente, die für Gottes Persönlichkeit oder Realität sprechen, während für alle anderen Menschen, die Gottes nicht in dieser Weise sicher sind, kein denkbares Argument je wahrhaft überzeugend sein kann.

101:2.17

Die Psychologie kann allerdings versuchen, die Phänomene religiöser Reaktionen auf das gesellschaftliche Umfeld zu studieren, aber nie kann sie hoffen, bis zu den wirklichen inneren Beweggründen und Arbeitsweisen der Religion vorzudringen. Einzig die Theologie, Wissensgebiet des Glaubens und Technik der Offenbarung, kann irgendwelche intelligenten Aussagen über Wesen und Inhalt der religiösen Erfahrung liefern.


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