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Vier ereignisreiche Tage in Kapernaum

2. Ein Nachmittag in der Synagoge

145:2.1

Am nächsten Sabbat hielt Jesus beim nachmittäglichen Dienst in der Synagoge die Predigt über „Den Willen des Vaters im Himmel“. Am Morgen hatte Simon Petrus über „Das Königreich“ gepredigt. Bei dem Treffen am Donnerstagabend in der Synagoge hatte Andreas über das Thema „Der Neue Weg“ gelehrt. Genau zu dieser Zeit glaubten in Kapernaum mehr Menschen an Jesus als in irgendeiner anderen Stadt auf Erden.

145:2.2

Als Jesus an diesem Sabbatnachmittag in der Synagoge lehrte, entnahm er, wie es Brauch war, den ersten Text dem Gesetz und las aus dem Buch Exodus: „Und du sollst dem Herrn, deinem Gott, dienen, und er wird dein Brot und dein Wasser segnen und alle Krankheit soll von dir genommen werden.“ Den zweiten Text wählte er aus den Propheten und las aus Jesaja: „Erhebe dich und scheine! denn dein Licht ist gekommen und die Herrlichkeit des Herrn ist über dir aufgegangen. Finsternis mag die Erde und großes Dunkel das Volk bedecken, aber der Geist des Herrn wird über dir aufgehen und die göttliche Herrlichkeit mit dir erscheinen. Sogar die Heiden werden zu diesem Licht kommen und viele große Geister werden sich seiner Helligkeit überantworten.“

145:2.3

In dieser Predigt bemühte sich Jesus, die Tatsache klarzumachen, dass die Religion eine persönliche Erfahrung ist. Unter anderem sagte der Meister:

145:2.4

„Ihr wisst es wohl: Ein liebevoller Vater liebt seine Familie als Ganzes. Aber er betrachtet sie in dieser Weise als Gruppe nur zufolge seiner starken Zuneigung für jedes einzelne Mitglied dieser Familie. Nähert euch dem Vater im Himmel nicht mehr als ein Kind Israels, sondern als ein Kind Gottes. Als Gruppe seid ihr allerdings die Kinder Israels, aber als Einzelmenschen ist jeder von euch ein Kind Gottes. Ich bin nicht gekommen, den Vater den Kindern Israels zu offenbaren, sondern vielmehr, um dieses Verständnis Gottes und die Offenbarung seiner Liebe und Barmherzigkeit jedem einzelnen Gläubigen als eine echte persönliche Erfahrung zu bringen. Die Propheten haben euch alle gelehrt, dass Jahve für sein Volk sorgt, dass Gott Israel liebt. Aber ich bin unter euch gekommen, um eine größere Wahrheit zu verkündigen, die manche der späteren Propheten ebenfalls erfasst haben, die Wahrheit, dass Gott euch – einen jeden von euch – als Einzelnen liebt. All diese Generationen hindurch habt ihr eine nationale oder Rassenreligion gehabt; jetzt bin ich gekommen, um euch eine persönliche Religion zu schenken.

145:2.5

Aber selbst das ist keine neue Idee. Manche von euch, die geistig gesinnt sind, kennen diese Wahrheit, da einige der Propheten sie euch gelehrt haben. Habt ihr nicht in den Schriften gelesen, wo der Prophet Jeremia sagt: ‚In jener Zeit wird man nicht mehr sagen: die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf. Nein, jeder stirbt nur für seine eigene Schuld; nur dem, der die sauren Trauben isst, werden die Zähne stumpf. Siehe, es wird eine Zeit kommen, da ich mit meinem Volk einen neuen Bund schließen werde, nicht gemäß dem Bund, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie aus dem Lande Ägypten herausführte, sondern gemäß dem neuen Weg. Ich werde mein Gesetz sogar in ihre Herzen schreiben. Ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein. In jenen Tagen wird keiner zu seinem Nächsten sagen: Kennst du den Herrn? Nein! Denn sie werden mich alle persönlich kennen, vom Geringsten bis zum Größten.‘

145:2.6

Habt ihr diese Versprechen nicht gelesen? Glaubt ihr den Schriften nicht? Versteht ihr nicht, dass die Worte des Propheten in dem erfüllt sind, was ihr heute vor Augen habt? Und forderte euch Jeremia nicht auf, aus der Religion eine Herzensangelegenheit zu machen und euch als Einzelpersonen an Gott zu wenden? Sagte euch der Prophet nicht, dass der Gott des Himmels das Herz eines jeden von euch erforscht? Und hat man euch nicht gewarnt, dass das menschliche Herz von Natur aus überaus betrügerisch und oft äußerst böse ist?

145:2.7

Habt ihr auch jene Stelle nicht gelesen, wo Ezechiel eure Väter lehrte, dass die Religion in eurer individuellen Erfahrung Wirklichkeit werden muss? Ihr dürft das Sprichwort nicht mehr gebrauchen, das da lautet: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne davon stumpf.‘ ‚So wahr ich lebe‘, spricht Gott der Herr, ‚siehe alle Seelen sind mein; des Vaters Seele wie auch die Seele des Sohnes. Nur die Seele, die sündigt, soll sterben.‘ Und Ezechiel sah sogar den heutigen Tag voraus, als er in Gottes Namen sprach: ‚Und ich will euch auch ein neues Herz schenken und einen neuen Geist in euch hineinlegen.‘

145:2.8

Ihr solltet nicht mehr befürchten, dass Gott um der Sünde eines Einzelnen willen eine Nation bestraft; ebenso wenig wird der Vater im Himmel eines seiner gläubigen Kinder der Sünden einer Nation wegen bestrafen, obwohl das einzelne Familienmitglied oft die materiellen Folgen von Fehlern der Familie und von Übertretungen der Gruppe zu spüren bekommt. Ist es euch nicht klar, dass die Hoffnung auf eine bessere Nation – oder auf eine bessere Welt – eng verknüpft ist mit dem Fortschritt und der Erleuchtung des Einzelnen?“

145:2.9

Danach legte der Meister dar, dass der Vater im Himmel will, dass seine Kinder auf Erden, wenn sie diese geistige Freiheit erkennen, mit dem ewigen Aufstieg der Paradies-Laufbahn beginnen. Diese besteht in der bewussten Antwort des Geschöpfs auf das göttliche Drängen des innewohnenden Geistes, den Schöpfer zu finden, Gott zu kennen und danach zu trachten, wie er zu werden.

145:2.10

Diese Predigt half den Aposteln sehr. Allen kam klarer zum Bewusstsein, dass das Evangelium des Königreichs eine Botschaft ist, die sich an den Einzelnen und nicht an die Nation richtet.

145:2.11

Obwohl die Bewohner von Kapernaum mit dem Unterricht Jesu vertraut waren, versetzte seine Predigt sie an diesem Sabbat in Erstaunen. Er lehrte fürwahr wie einer, der Autorität hat, und nicht wie die Schriftgelehrten.

145:2.12

Gerade als Jesus zu sprechen aufhörte, wurde ein junger Mann in der Gemeinde, den seine Worte sehr bewegt hatten, von einem heftigen epileptischen Anfall gepackt und schrie laut auf. Als er am Ende des Anfalls das Bewusstsein wiedererlangte, sprach er in einem träumerischen Zustand: „Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazareth? Du bist der Heilige Gottes; bist du gekommen, um uns zu vernichten?“ Jesus gebot den Leuten Ruhe, nahm den jungen Mann bei der Hand und sagte: „Komm da heraus“ – und er erwachte augenblicklich.

145:2.13

Dieser junge Mann war nicht von einem unreinen Geist oder Dämon besessen; er war das Opfer einer gewöhnlichen Epilepsie. Aber man hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sein Übel der Besessenheit durch einen bösen Geist zuzuschreiben sei. Er glaubte das und betrug sich dementsprechend in allem, was er in Verbindung mit seiner Krankheit dachte oder sprach. Alle Leute meinten, dass solche Phänomene direkt durch die Anwesenheit unreiner Geister verursacht würden. Folglich glaubten sie auch, dass Jesus einen Dämon aus diesem Mann ausgetrieben habe. Aber Jesus heilte ihn nicht zu diesem Zeitpunkt von seiner Epilepsie. Dieser Mann wurde erst im späteren Verlauf des Tages, nach Sonnenuntergang, wirklich geheilt. Lange nach dem Pfingsttag mied der Apostel Johannes, der als letzter über Jesu Wirken schrieb, jede Bezugnahme auf diese sogenannten „Dämonenaustreibungen“, und zwar tat er dies in Anbetracht der Tatsache, dass solche Fälle dämonischer Besessenheit nach Pfingsten nie mehr auftraten.

145:2.14

Nach diesem alltäglichen Vorfall verbreitete sich in Kapernaum rasch die Kunde, Jesus habe einen Dämon aus einem Mann ausgetrieben und ihn am Schluss seiner Nachmittagspredigt in der Synagoge auf wunderbare Weise geheilt. Der Sabbat war genau die richtige Zeit für die rasche und wirksame Verbrei­tung eines so Aufsehen erregenden Gerüchtes. Die Kunde davon verbreitete sich auch in all den kleineren Siedlungen rund um Kapernaum, und viele Leute glaubten daran.

145:2.15

Meistens besorgten die Frau des Simon Petrus und ihre Mutter das Kochen und die Hausarbeit in dem großen Haus des Zebedäus, wo Jesus und die Zwölf ihr Hauptquartier hatten. Das Haus des Petrus befand sich ganz in dessen Nähe, und Jesus hielt mit seinen Freunden auf dem Rückweg von der Synagoge hier an, weil die Schwiegermutter des Petrus seit einigen Tagen mit Fieberfrost krank lag. Nun wollte es der Zufall, dass zur selben Zeit, als Jesus bei der kranken Frau stand, ihre Hand hielt, ihr über die Stirn strich und zu ihr Worte des Trostes und der Ermutigung sprach, das Fieber sie verließ. Jesus hatte noch keine Zeit gehabt, seinen Aposteln zu erklären, dass in der Synagoge kein Wunder geschehen war; und unter dem neuerlichen und lebhaften Eindruck dieses Vorfalls und eingedenk des Wassers und Weins in Kana griffen sie dieses Zusammentreffen als weiteres Wunder auf, und einige von ihnen stürzten hinaus, um die Neuigkeit in der Stadt zu verbreiten.

145:2.16

Amatha, die Schwiegermutter des Petrus, litt unter Malaria. Sie wurde zu diesem Zeitpunkt durch Jesus nicht auf wunderbare Weise geheilt. Ihre Heilung geschah erst einige Stunden später nach Sonnenuntergang in Verbindung mit dem außergewöhnlichen Ereignis, das sich im Eingangshof des Hauses des Zebedäus abspielte.

145:2.17

Und diese Beispiele sind bezeichnend für die Art, wie eine nach Wundern suchende Generation und ein wundergläubiges Volk alle derartigen Zufälle sofort zum Vorwand nahmen, um zu verkünden, Jesus habe ein neues Wunder vollbracht.


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