Die institutionelle Religion kann bei der weltweit unmittelbar bevorstehenden gesellschaftlichen Umstrukturierung und wirtschaftlichen Reorganisation weder eine Inspiration liefern noch für Führung sorgen, da sie unglücklicherweise mehr oder weniger ein organischer Bestandteil ebendieser Gesellschaftsordnung und dieses Wirtschaftssystems geworden ist, die beide eine Umbildung zu erfahren bestimmt sind. Einzig die wirkliche Religion persönlicher geistiger Erfahrung kann in der gegenwärtigen Zivilisationskrise hilfreich und schöpferisch wirken.
Die institutionelle Religion ist jetzt in einer Sackgasse, in einem Teufelskreis gefangen. Sie kann die Gesellschaft nicht neu bauen, ohne zuerst sich selber neu zu bauen; aber da sie so sehr integrierender Bestandteil der bestehenden Ordnung ist, kann sie sich nicht neu bauen, solange die Gesellschaft nicht einen radikalen Umbau erfahren hat.
Gläubige Menschen müssen in Gesellschaft, Industrie und Politik als Einzelne und nicht als Gruppen, Parteien oder Institutionen wirken. Eine religiöse Gruppe, die sich anmaßt, als solche unabhängig von religiösen Aktivitäten zu funktionieren, wird augenblicklich zu einer politischen Partei, wirtschaftlichen Organisation oder sozialen Institution. Religiöser Kollektivismus muss seine Bestrebungen auf die Förderung religiöser Anliegen beschränken.
Gläubige sind bei den Aufgaben des gesellschaftlichen Umbaus nicht wertvoller als Ungläubige außer insofern, als ihre Religion ihnen erhöhten kosmischen Weitblick verliehen und sie mit jener höheren sozialen Weisheit begabt hat, die aus dem aufrichtigen Wunsch hervorgeht, Gott über alles zu lieben und jeden Menschen wie einen Bruder im himmlischen Königreich zu lieben. Eine ideale Gesellschaftsordnung ist eine, in der jeder Mensch seinen Nachbarn ebenso sehr liebt wie sich selber.
Es ist wohl schon so, dass die institutionalisierte Kirche in der Vergangenheit manchmal zur Dienerin der Gesellschaft wurde, indem sie die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Ordnungen verherrlichte, aber will sie überleben, muss sie solches Handeln schleunigst aufgeben. Die einzige ihr zustehende Haltung besteht im Lehren der Gewaltlosigkeit, in der Doktrin friedlicher Evolution anstelle gewalttätiger Revolution – Friede auf Erden und guter Wille unter allen Menschen.
Die moderne Religion findet es nur deshalb so schwierig, ihre Haltung den sich rasch vollziehenden gesellschaftlichen Wechseln anzupassen, weil sie es sich erlaubt hat, so vollständig in Tradition, Dogma und Institutionalisierung zu erstarren. Die auf lebendiger Erfahrung beruhende Religion hat keine Schwierigkeit, all diese gesellschaftlichen Entwicklungen und wirtschaftlichen Umwälzungen vorauszunehmen, um stets als sittlicher Stabilisator, gesellschaftlicher Führer und geistiger Pilot in ihrer Mitte zu wirken. Von einem Zeitalter zum anderen überträgt wahre Religion jene Kulturanteile, die es wert sind, und jene Weisheit, die aus der Erfahrung hervorgegangen ist, Gott zu kennen und danach zu streben, ihm zu gleichen.