Die frühe evolutionäre Religion hat die Funktion, die wesentlichen gesellschaftlichen, sittlichen und geistigen Werte, die langsam Gestalt annehmen, zu erhalten und zu steigern. Dieser Auftrag der Religion wird von der Menschheit nicht bewusst wahrgenommen, aber sie wird hauptsächlich durch die Funktion des Gebetes erfüllt. Die Gebetspraxis stellt das unabsichtliche, aber nichtdestoweniger persönliche und kollektive Bemühen einer Gruppe dar, diese Bewahrung höherer Werte sicherzustellen (zu verwirklichen). Ohne die Sicherung durch das Gebet würden alle heiligen Festtage rasch wieder zu gewöhnlichen Feiertagen werden.
Die Religion und ihre Wirkkräfte, deren hauptsächlichste das Gebet ist, sind nur mit jenen Werten verbunden, die die allgemeine gesellschaftliche Anerkennung, die Billigung durch die Gruppe, besitzen. Deshalb musste der primitive Mensch des Trostes der Religion und der Hilfe des Gebets entbehren, wenn er versuchte, seine niedrigeren Empfindungen zu befriedigen oder in ungezügelter Weise selbstsüchtige Ziele zu verfolgen. Wenn jemand etwas Asoziales im Schilde führte, musste er zu nichtreligiöser Magie Zuflucht nehmen, sich an Hexenmeister wenden und dadurch der Hilfe des Gebets verlustig gehen. Deshalb wurde das Gebet schon sehr früh zu einem mächtigen Förderer gesellschaftlicher Entwicklung, sittlichen Fortschritts und geistigen Vollbringens.
Aber der primitive Verstand war weder logisch noch konsequent. Die frühen Menschen erkannten nicht, dass materielle Dinge nicht zum Reich des Gebets gehören. Diese einfachen Gemüter sagten sich, dass Nahrung, Obdach, Regen, Spiele und andere materielle Güter das gesellschaftliche Wohl fördern, und begannen deshalb, für diese physischen Segnungen zu beten. Das war zwar eine Verfälschung des Gebets, aber es ermutigte Anstrengungen zur Verwirklichung dieser materiellen Zielsetzungen durch soziale und ethische Aktionen. Obwohl eine solche Herabwürdigung des Gebets die geistigen Werte eines Volkes minderte, hob es direkt dessen wirtschaftliche, gesellschaftliche und ethische Sitten.
Das Gebet ist nur bei den primitivsten Verstandestypen ein Monolog. Es wird schon früh zu einem Dialog und geht rasch weiter zur Ebene der Anbetung im Gruppenverband. Das Gebet bedeutet, dass die vormagischen Beschwörungen der primitiven Religion sich bis zu jener Ebene entwickelt haben, wo der menschliche Verstand die Wirklichkeit wohltätiger Mächte oder Wesen erkennt, die imstande sind, gesellschaftliche Werte zu erhöhen und sittliche Ideale zu verstärken, und wo ihm auch klar wird, dass diese Einflüsse übermenschlicher Natur und verschieden sind vom Ego des selbstbewussten Menschen und seiner sterblichen Gefährten. Wahres Gebet kann daher erst erscheinen, wenn man sich die wirkende Kraft des religiösen Beistands als persönlich vorstellt.
Gebet hat wenig mit Animismus gemein, aber dessen Glaubensinhalte können neben erwachenden religiösen Gefühlen existieren. Oft haben Animismus und Religion völlig getrennte Ursprünge gehabt.
All jene Sterblichen, die noch nicht von den Fesseln primitiver Angst befreit sind, befinden sich in wirklicher Gefahr, dass all ihr Beten zu einem morbiden Gefühl von Sünde, zu ungerechtfertigten Vorstellungen von wirklicher oder eingebildeter Schuld führt. Es ist indessen in der heutigen Zeit unwahrscheinlich, dass viele Menschen genug Zeit im Gebet verbringen, um zu diesem schädlichen Brüten über ihre Nichtswürdigkeit oder Sündhaftigkeit zu gelangen. Die Gefahren einer Entstellung und Pervertierung des Gebets liegen in Unwissenheit, Aberglauben, Kristallisierung, Devitalisierung, Materialismus und Fanatismus.