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Schamanismus – Medizinmänner und Priester

1. Die ersten Schamanen – die Medizinmänner

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Der Schamane war der höchste Medizinmann, der Fetischmann der Zeremonien und die Persönlichkeit, die im Mittelpunkt aller Praktiken der evolutionären Religion stand. Bei vielen Gruppen nahm der Schamane einen höheren Rang ein als der Kriegschef, was den Beginn der Herrschaft der Kirche über den Staat bedeutete. Der Schamane wirkte manchmal als Priester oder gar als Priesterkönig. Einige der späteren Stämme besaßen sowohl die früheren Schamanen-Medizinmänner (Seher) als auch die später erscheinenden Schamanen-Priester. Und in vielen Fällen wurde das Amt des Schamanen erblich.

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Da in alten Zeiten alles Abnormale der Besessenheit durch Geister zugeschrieben wurde, konnte jede beliebige auffallende mentale oder physische Abnormität jemanden als Medizinmann qualifizieren. Viele dieser Männer waren Epileptiker, viele dieser Frauen Hysterikerinnen, und diese beiden Typen sind zu einem guten Teil für einstige Inspiration sowie Besessenheit durch Geister und Dämonen verantwortlich. Recht viele dieser frühesten Priester gehörten einer Klasse an, die man seither als paranoid bezeichnet hat.

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Auch wenn sie vielleicht in kleineren Dingen zu Täuschungen griffen, so glaubten die Schamanen doch in ihrer großen Mehrheit an die Tatsache ihrer Besessenheit durch Geister. Frauen, die fähig waren, sich in eine Trance oder in einen kataleptischen Zustand zu versetzen, wurden mächtige Schamaninnen; später wurden solche Frauen Prophetinnen und Geistermedien. Ihre kataleptischen Trancen gingen immer mit angeblichen Verbindungen zu den Geistern der Toten einher. Viele Schamaninnen waren auch professionelle Tänzerinnen.

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Aber nicht alle Schamanen unterlagen einer Selbsttäuschung; viele waren gerissene und geschickte Schwindler. Als sich der Beruf entwickelte, verlangte man von einem Novizen zehn Lehrjahre der Entbehrungen und Selbstverleugnung, um sich als Medizinmann zu qualifizieren. Die Schamanen entwickelten eine besondere Berufstracht und hatten ein geheimnisvolles Gehabe. Sie gebrauchten oft Drogen, um gewisse physische Zustände herbeizuführen, die die Stammesangehörigen beeindruckten und hinters Licht führten. Taschenspieler­kunststücke wurden vom einfachen Volk als übernatürlich empfunden, und Bauchrednerei wurde zuerst von gerissenen Priestern angewandt. Viele der alten Schamanen entdeckten ungewollt den Hypnotismus; andere versetzten sich durch lang dauerndes Anstarren ihres Bauchnabels selber in Hypnose.

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Obwohl viele zu solchen Tricks und Täuschungen Zuflucht nahmen, beruhte ihr Ruf als Klasse letztlich auf ihrer scheinbaren Leistung. Wenn ein Schamane bei seinen Unternehmungen erfolglos war, wurde er, sofern er keine einleuchtende Ausrede vorbringen konnte, entweder degradiert oder getötet. So gingen die ehrlichen Schamanen schon früh zugrunde; nur die durchtriebenen Schauspieler überlebten.

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Der Schamanismus war es, der den Händen der Alten und Starken die ausschließliche Führung der Stammesangelegenheiten entriss und sie in die Hände der Gerissenen, Scharfsinnigen und Weitblickenden legte.


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