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Sünde, Opfer und Sühne

5. Opfer und Kannibalismus

89:5.1

Die modernen Ideen über den frühen Kannibalismus sind völlig falsch; er war ein Teil der Sitten der frühen Gesellschaft. Obwohl Menschenfresserei für die moderne Zivilisation traditionell etwas Entsetzliches ist, war sie ein Teil der gesellschaftlichen und religiösen Struktur der primitiven Gesellschaft. Gruppeninteressen diktierten die Praxis des Kannibalismus. Er entstand unter dem Druck der Notwendigkeit und hielt sich infolge der Sklaverei durch Aberglauben und Unwissenheit. Er war eine gesellschaftliche, wirtschaftliche, religiöse und militärische Sitte.

89:5.2

Der frühe Mensch war Kannibale; er liebte Menschenfleisch und brachte es deshalb den Geistern und seinen primitiven Göttern als Nahrungsgabe dar. Da die Phantomgeister nur etwas abgeänderte Menschen waren und Nahrung des Menschen größtes Bedürfnis ist, musste Nahrung auch das größte Bedürfnis eines Geistes sein.

89:5.3

Kannibalismus war einst unter den sich entwickelnden Rassen nahezu allgemein verbreitet. Die Sangik waren alle Kannibalen, aber die Andoniten waren es anfangs nicht, noch waren es die Noditen und Adamiten. Die Anditen wurden es erst, nachdem sie sich außerordentlich stark mit den evolutionären Rassen vermischt hatten.

89:5.4

Der Geschmack an Menschenfleisch nimmt zu. Nachdem das Verzehren von Menschenfleisch aufgrund von Hunger, Freundschaft, Rache oder religiösem Ritual begonnen hat, geht es nun in gewohnheitsmäßigen Kannibalismus über. Menschenfresserei ist aus Nahrungsmangel entstanden, obwohl dieser selten der wirkliche Grund war. Eskimos und frühe Andoniten waren indessen selten Kannibalen außer in Zeiten der Hungersnot. Die roten Menschen, insbesondere diejenigen Mittelamerikas, waren Kannibalen. Es war einst unter den primitiven Müttern allgemein üblich, ihre eigenen Kinder zu töten und zu verzehren, um die Kraft, die sie beim Gebären verloren hatten, wiederzugewinnen, und in Queensland kommt es noch häufig vor, dass das erste Kind getötet und verspiesen wird. In neuerer Zeit haben viele afrikanische Stämme vom Kannibalismus als einer Kriegsmaßnahme, einer Art Schreckgespenst, Gebrauch gemacht, um ihre Nachbarn zu terrorisieren.

89:5.5

Es gab zwar Kannibalismus, der von der Degeneration einst höherer Gruppen herrührte, aber im Wesentlichen herrschte er unter allen evolutionären Rassen. Die Menschenfresserei kam zu einer Zeit auf, als die Menschen die Erfahrung intensiver und erbitterter Gefühle gegenüber ihren Feinden machten. Das Verspeisen von Menschenfleisch wurde Teil einer feierlichen Rachezeremonie; man glaubte, dass das Phantom eines Feindes auf diese Weise zerstört oder mit demjenigen des Essenden vereinigt werden konnte. Es war ein einst weit verbreiteter Glaube, dass Zauberer ihre Kräfte durch das Verspeisen von Menschenfleisch erwarben.

89:5.6

Gewisse Gruppen von Menschenfressern verzehrten nur Mitglieder ihres eigenen Stammes. Es war eine pseudogeistige Inzucht, die in ihrer Vorstellung die Stammessolidarität verstärkte. Aber sie verspeisten zur Vergeltung auch Feinde mit dem Gedanken, sich deren Kraft anzueignen. Man betrachtete es als eine Ehre für die Seele eines Freundes oder Stammesbruders, seinen Körper zu essen, während es für einen Feind nur gerechte Bestrafung war, wenn man ihn verzehrte. Der Verstand des Wilden machte keine Ansprüche auf Folgerichtigkeit.

89:5.7

Bei einigen Stämmen begehrten alte Eltern, von ihren Kindern gegessen zu werden, während bei anderen die Sitte gebot, sich des Verzehrens von nahen Verwandten zu enthalten; man verkaufte deren Körper oder tauschte sie gegen solche von Fremden ein. Es gab einen beträchtlichen Handel mit Frauen und Kindern, die man mästete, um sie dann zu schlachten. Wenn weder Krankheit noch Krieg die Bevölkerung in Grenzen zu halten vermochten, wurden die Überschüssigen ohne viel Federlesens verzehrt.

89:5.8

Unter folgenden Einflüssen ist der Kannibalismus allmählich verschwunden:

89:5.9

1. Er wurde manchmal zu einer gemeinschaftlich begangenen Zeremonie, zum Ausdruck der Übernahme einer kollektiven Verantwortung bei der Ver­hängung der Todesstrafe über einen Stammesangehörigen. Die Blutschuld hört auf, ein Verbrechen zu sein, wenn alle – die Gesellschaft – daran teilnehmen. Die letzten Fälle von Kannibalismus in Asien waren solche von hingerichteten und verzehrten Verbrechern.

89:5.10

2. Er wurde sehr früh zu einem religiösen Ritual, aber die zunehmende Furcht vor Phantomen bewirkte nicht immer einen Rückgang der Menschenfresserei.

89:5.11

3. Der Kannibalismus entwickelte sich mit der Zeit bis zu dem Punkt, wo nur noch jene bestimmten Körperteile oder -organe gegessen wurden, von denen man glaubte, dass sie die Seele oder Anteile des Geistes enthielten. Bluttrinken wurde üblich, und man pflegte die „essbaren“ Körperteile mit Heilmitteln zu vermischen.

89:5.12

4. Der Kannibalismus wurde auf Männer beschränkt; den Frauen war es verboten, Menschenfleisch zu essen.

89:5.13

5. Als Nächstes wurde er auf Häuptlinge, Priester und Schamanen beschränkt.

89:5.14

6. Dann wurde er unter den höheren Stämmen tabu. Das Tabu auf Men­schenfresserei hatte seinen Ursprung in Dalamatia, von wo es sich langsam über die ganze Welt ausbreitete. Die Noditen förderten die Kremation als Mittel zur Bekäm­pfung des Kannibalismus, denn es war einst allgemeiner Brauch, beerdigte Leichen wieder auszugraben und zu verspeisen.

89:5.15

7. Mit den Menschenopfern kam das Ende des Kannibalismus. Da Menschenfleisch zur Nahrung von höheren Menschen, den Häuptlingen, geworden war, wurde es schließlich den noch höheren Geistern vorbehalten; und so setzte die Darbringung von menschlichen Opfern dem Kannibalismus in wirksamer Weise ein Ende außer bei den niedrigsten Stämmen. Als das Menschenopfer eine feste Einrichtung geworden war, wurde Menschenfresserei mit dem Tabu belegt; Menschenfleisch war nur eine Speise für Götter; die Menschen hatten bloß Anrecht auf einen kleinen zeremoniellen Bissen, ein Sakrament.

89:5.16

Endlich kamen Tiersubstitute zu Opferzwecken in allgemeinen Gebrauch, und auch bei den rückständigeren Stämmen verringerte der Genuss von Hundefleisch denjenigen von Menschenfleisch sehr stark. Der Hund war das erste gezähmte Tier und wurde als solches und als Speise hochgeschätzt.


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