Die primitiven Menschen stellten sich vor, dass die Geister und Phantome nahezu unbeschränkte Rechte, aber keine Pflichten besäßen, hingegen die Menschen als mancherlei Pflichten unterworfen, aber rechtlos betrachteten. Die Menschen glaubten, die Geister sähen auf sie herab als auf solche, die bei der Erfüllung ihrer geistigen Pflichten dauernd versagten. Die Menschheit glaubte ganz allgemein, dass die Phantome einen ständigen Tribut von Diensten als Preis dafür erhöben, dass sie nicht in die menschlichen Angelegenheiten eingriffen, und jedes, auch das geringste Ungemach wurde dem Wirken von Phantomen zugeschrieben. Die frühen Menschen hatten eine derartige Angst, irgendeine den Göttern zustehende Ehre zu übersehen, dass sie, nachdem sie allen bekannten Geistern geopfert hatten, um ganz sicher zu gehen, auch noch eine weitere Opferung für die „unbekannten Götter“ vornahmen.
Und nun folgen auf den einfachen Phantomkult die Praktiken des fortgeschritteneren und vergleichsweise komplexeren Geister-Phantomkults, der Dienst an den höheren Geistern, die sich in der primitiven menschlichen Fantasie entwickelt haben, und ihre Verehrung. Das religiöse Zeremoniell muss mit geistigem Fortschritt und geistiger Entwicklung Schritt halten. Der erweiterte Kult war bloß die in Verbindung mit dem Glauben an übernatürliche Wesen geübte Kunst der Selbst-Erhaltung, der Selbst-Anpassung an die Geisterumwelt. Industrielle und militärische Organisationen waren Anpassungen an natürliche und gesellschaftliche Umfelder. Und so wie die Ehe langsam eine Wirklichkeit wurde, um den Forderungen der Zweigeschlechtlichkeit zu genügen, entwickelte sich die religiöse Organisation als Antwort auf den Glauben an höhere Geisterkräfte und geistige Wesen. Religion verkörpert die Anpassung des Menschen an die Illusionen, die er sich über das Mysterium des Zufalls macht. Die Furcht vor den Geistern und ihre spätere Verehrung waren Haltungen, die als Versicherung gegen Unglück, als Politik des Wohlergehens angenommen wurden.
In den Augen des Wilden kümmern sich die guten Geister um ihre eigenen Angelegenheiten und stellen an die menschlichen Wesen keine hohen Ansprüche. Die bösen Phantome und Geister sind es, die bei guter Laune gehalten werden müssen. Deshalb schenkten die primitiven Völker ihren übel wollenden Geistern größere Aufmerksamkeit als den gutmütigen.
Insbesondere menschliche Prosperität erweckte den Neid der bösen Geister, und ihre Methode der Heimzahlung bestand darin, durch ein menschliches Werkzeug und die Technik des bösen Blicks zurückzuschlagen. Die Phase des Kults, die dem Vermeiden der Geister gewidmet war, beschäftigte sich intensiv mit den Machenschaften des bösen Blicks. Die Angst vor ihm breitete sich fast auf der ganzen Welt aus. Hübsche Frauen wurden verschleiert, um sie vor dem bösen Blick zu schützen; in der Folge wurde dieses Verfahren von vielen Frauen übernommen, die als schön gelten wollten. Aus dieser Furcht vor den bösen Geistern ließ man Kinder nach Einbruch der Dunkelheit selten draußen, und die frühen Gebete schlossen immer die Bitte „Befreie uns von dem bösen Blick“ ein.
Der Koran enthält ein vollständiges Kapitel, das dem bösen Blick und magischen Verzauberungen gewidmet ist, und die Juden glaubten fest daran. Der ganze Phalluskult entstand als Abwehr gegen den bösen Blick. Als einzige Fetische, die ihm seine Macht nehmen konnten, galten die Geschlechtsorgane. Der böse Blick gab Anlass zu den ersten abergläubischen Vorstellungen von vorgeburtlichem Gezeichnetsein von Kindern, von mütterlicher Abstempelung, und sein Kult herrschte einmal so gut wie überall.
Neid ist ein tiefsitzender menschlicher Wesenszug; deshalb schrieb der primitive Mensch ihn auch seinen frühen Göttern zu. Und da der Mensch einst die Phantome getäuscht hatte, begann er bald auch die Geister zu hintergehen. Er sagte sich: „Da die Geister uns um unserer Schönheit und unseres Wohlstands willen beneiden, werden wir uns entstellen und unseren Erfolg herunterspielen.“ Die frühe Demut war deshalb nicht etwa eine Dämpfung des Ego, sondern vielmehr ein Versuch, eifersüchtige Geister in die Irre zu führen und zu betrügen.
Die Methode, die verhindern sollte, dass menschlicher Wohlstand den Neid der Geister auf sich zöge, bestand darin, dass man irgendeine glückliche oder heißgeliebte Person oder Sache mit Verwünschungen überschüttete. Die Gewohnheit, schmeichelhafte Bemerkungen über sich selber oder seine Familie herabzumindern, hat hierin ihren Ursprung, und sie verwandelte sich schließlich in zivilisierte Bescheidenheit, Zurückhaltung und Höflichkeit. Aus demselben Grund nahm man die Gewohnheit an, hässlich auszusehen. Schönheit erweckte den Neid der Geister; sie zeugte von sündigem menschlichem Hochmut. Der Wilde suchte sich einen hässlichen Namen aus. Diese Seite des Kults war für den Fortschritt der Kunst ein großes Hemmnis und dafür verantwortlich, dass die Welt lange Zeit düster und hässlich aussah.
Unter der Herrschaft des Geisterkults war das Leben bestenfalls ein Glücksspiel, ein Resultat des Geisterregiments. Die eigene Zukunft war nicht das Resultat von Anstrengung, Fleiß oder Talent, außer dass diese zur Beeinflussung der Geister eingesetzt werden konnten. Die Zeremonien zur Gnädigstimmung der Geister waren eine schwere Bürde und machten das Leben öde und ganz eigentlich unerträglich. Zeitalter auf Zeitalter und Generation auf Generation hat Rasse um Rasse versucht, diese Lehre von den Überphantomen zu verbessern, aber noch keine Generation hat es je gewagt, sie völlig zurückzuweisen.
Absicht und Wille der Geister wurden mit Hilfe von Omen, Orakeln und Zeichen ergründet. Und diese Geisterbotschaften deutete man mittels Hellsehen, Wahrsagerei, Magie, Gottesurteilen und Astrologie. Der ganze Kult war darauf ausgerichtet, die Geister zu besänftigen, zufrieden zu stellen und durch diese verkappte Bestechung zu kaufen.
Und so entstand eine neue und erweiterte Weltphilosophie mit folgenden Wesenszügen:
1. Pflicht – die Dinge, die getan werden müssen, damit die Geister einem gewogen bleiben oder sich zumindest neutral verhalten.
2. Das Richtige tun – korrektes Benehmen und korrekte Zeremonien, um die Geister aktiv für seine Interessen zu gewinnen.
3. Wahrheit – das richtige Verständnis der Geister und die richtige Haltung ihnen gegenüber, folglich auch gegenüber Leben und Tod.
Nicht nur aus Neugier versuchten die Alten, die Zukunft zu kennen; sie wollten dem Unglück ausweichen. Hellseherei war ganz einfach ein Versuch, Schwierigkeiten zu vermeiden. In jener Zeit hielt man die Träume für prophetisch, und alles, was aus dem gewöhnlichen Rahmen fiel, wurde als Omen betrachtet. Und noch heute sind die zivilisierten Rassen mit dem Glauben an Zeichen, Symbole und andere abergläubische Überbleibsel aus dem einstigen fortschreitenden Phantomkult gestraft. Langsam, nur sehr langsam trennen sich die Menschen von den Methoden, mit deren Hilfe sie so allmählich und unter Schmerzen die evolutionäre Lebensleiter hinaufgestiegen sind.