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Die Evolution der Ehe

3. Frühe Ehesitten

82:3.1

Die Ehe ist die institutionelle Antwort des Gesellschaftsorganismus auf die stets vorhandene biologische Spannung, die den Menschen unablässig zur Vermehrung – zur Selbst-Fortpflanzung – treibt. Die Paarung ist ein universelles Naturphänomen, und mit der Entwicklung der Gesellschaft vom Einfachen zum Komplexen ging eine entsprechende Entwicklung der Paarungsgebräuche einher – die Institution der Ehe wurde geboren. Wo immer eine gesellschaftliche Evolution das Stadium erreicht hat, an dem ein Sittenkodex entsteht, wird man die Ehe als eine sich entwickelnde Institution finden.

82:3.2

Es hat immer zwei verschiedene Ehebereiche gegeben, und es wird sie immer geben: die sittlichen Normen, die die äußeren Aspekte der Paarung regelnden Gesetze einerseits, und die im Übrigen geheimen und persönlichen Bezie­hungen zwischen Mann und Frau andererseits. Der Einzelne hat sich stets gegen die durch die Gesellschaft auferlegten sexuellen Regelungen aufgelehnt; und dies ist der Grund für dieses Jahrtausende alte sexuelle Problem: Die Selbst-Erhaltung ist individuell, wird aber durch die Gruppe gewährleistet, während die Selbst-Fortpflanzung eine soziale Angelegenheit ist, aber durch den individuellen Impuls gesichert wird.

82:3.3

Wenn die sittlichen Normen respektiert werden, sind sie vollauf in der Lage, den Geschlechtstrieb zu zügeln und zu kontrollieren, wie es sich bei allen Rassen gezeigt hat. Die Ehenormen sind immer ein getreuer Gradmesser der herrschenden Macht der Sitten und des integren Funktionierens der Zivilregierung gewesen. Aber die frühen, Geschlecht und Paarung betreffenden Sitten waren eine Anhäufung von ungereimten und groben Regelungen. In diesen Eheregeln widersprachen sich die Interessen von Eltern, Kindern, Verwandten und Gesellschaft. Aber trotz alledem stiegen die Rassen, welche die Ehe hochhielten und pflegten, ganz natürlich zu höheren Ebenen auf und überlebten in größerer Zahl.

82:3.4

In primitiven Zeiten war die Ehe der für die soziale Stellung bezahlte Preis; der Besitz einer Frau war ein Zeichen von Würde. Der Wilde betrachtete seinen Hochzeitstag als Eintrittstor in Verantwortung und Mannheit. In einem Zeitalter wurde die Ehe als gesellschaftliche Pflicht angesehen, in einem anderen als religiöse Verpflichtung und wieder in einem anderen als politisches Erfordernis, um dem Staat Bürger zu beschaffen.

82:3.5

Viele frühe Stämme verlangten von den Eheanwärtern irgendwelche heldenhaften Diebstähle, um sich zu qualifizieren; spätere Völker ersetzten solche Raubzüge durch athletische Kämpfe und Wettspiele. Den Gewinnern in diesen Auseinandersetzungen wurde der erste Preis zugesprochen – sie durften unter den reifen Bräuten wählen. Bei den Kopfjägern durfte ein junger Mann nicht heiraten, bevor er nicht mindestens einen Kopf besaß, obwohl Schädel manchmal auch gekauft werden konnten. Als der Kauf von Frauen zurückging, wurden sie in Rätselturnieren gewonnen, ein Brauch, der noch in vielen Gruppen der schwarzen Menschen weiterlebt.

82:3.6

Mit fortschreitender Zivilisation legten gewisse Stämme die harten Ehetests für männliches Durchhaltevermögen in die Hände der Frauen, was diese in die Lage versetzte, den Mann ihrer Wahl zu begünstigen. Diese Ehetests umfassten Gewandtheit in Jagd und Kampf und die Fähigkeit, für eine Familie zu sorgen. Während langer Zeit wurde vom Bräutigam verlangt, für mindestens ein Jahr in die Familie der Braut einzutreten, dort zu leben und zu arbeiten und zu beweisen, dass er der Gemahlin, die er begehrte, würdig war.

82:3.7

Die Qualifikationen einer Frau waren ihre Fähigkeit, harte Arbeiten auszuführen und Kinder zu gebären. Man verlangte von ihr, eine bestimmte bäuerliche Arbeit in einer gegebenen Zeit auszuführen. Und wenn sie vor der Hochzeit ein Kind geboren hatte, war sie umso wertvoller; ihre Fruchtbarkeit war erwiesen.

82:3.8

Die Tatsache, dass alte Völker es als Schande oder gar als Sünde betrachteten, unverheiratet zu sein, erklärt den Ursprung der Kinderehen; wenn man schon verheiratet sein muss, dann je früher umso besser. Es herrschte auch allgemein der Glaube, dass Unverheiratete keinen Zutritt zum Land der Geister hätten, und das war ein weiterer Ansporn, Kinder sogar schon bei der Geburt und – unter Vorbehalt ihres Geschlechtes – manchmal schon vorher zu verheiraten. Die Alten glaubten, dass auch die Toten verheiratet sein mussten. Die ersten Heiratsvermittler dienten dazu, Ehen zwischen Verstorbenen auszuhandeln. Ein Elternteil eines Toten kam mit diesen Zwischenträgern überein, die Heirat zwischen ihrem verstorbenen Sohn und der verstorbenen Tochter einer anderen Familie zu vollziehen.

82:3.9

Bei späteren Völkern war die Pubertät das normale Heiratsalter, aber dieses wurde in direktem Verhältnis zum Fortschritt der Zivilisation immer weiter hinausgeschoben. Schon früh in der gesellschaftlichen Entwicklung entstanden besondere Orden von ledigen Männern und ledigen Frauen; sie wurden von Einzelnen ins Leben gerufen und unterhalten, denen ein normaler Geschlechtstrieb mehr oder weniger fehlte.

82:3.10

Viele Stämme erlaubten Mitgliedern der herrschenden Gruppe, mit der Braut, unmittelbar bevor sie ihrem Gatten gegeben wurde, geschlechtlich zu verkehren. Jeder dieser Männer gab der jungen Frau ein Geschenk, und das war der Ursprung des Brauchs, Hochzeitsgeschenke zu machen. Einige Gruppen erwarteten von einer jungen Frau, dass sie ihre Mitgift verdiene, welche aus den Geschenken bestand, die sie als Belohnung für ihre sexuellen Dienste im bräutlichen Ausstellungsraum erhalten hatte.

82:3.11

Einige Stämme verheirateten die jungen Männer mit Witwen und älteren Frauen, und wenn sie dann selber Witwer wurden, erlaubte man ihnen, junge Mädchen zu heiraten, um, wie sich die Leute ausdrückten, sicher zu gehen, dass nicht beide Eltern ganz verrückt nach einander würden, was ihrer Meinung nach der Fall gewesen wäre, wenn zwei jungen Leuten der Geschlechtsverkehr erlaubt worden wäre. Andere Stämme beschränkten den Geschlechtsverkehr auf Angehörige derselben Altersgruppen. Gerade auf diesen Umstand, dass die Ehe bestimmten Altersgruppen vorbehalten war, sind die ersten Gedanken an Inzest zurückzuführen. (In Indien gibt es auch heute noch keine die Ehe betreffenden Altersbeschränkungen.)

82:3.12

Unter der Herrschaft gewisser Sitten war der Witwenstand etwas Schreckener­regendes, da die Witwen entweder getötet wurden oder die Erlaubnis erhielten, auf dem Grab ihres Ehemanns Selbstmord zu begehen, denn man nahm an, dass sie mit ihrem Lebensgefährten in das Geisterreich hinübergingen. Die überlebenden Witwen wurden fast ausnahmslos für den Tod ihrer Männer getadelt. Einige Stämme verbrannten sie lebendigen Leibes. Wenn eine Witwe am Leben blieb, führte sie ein Dasein fortwährenden Trauerns und unerträglicher gesellschaftlicher Einschränkung, da eine Wiederverheiratung im Allgemeinen missbilligt wurde.

82:3.13

In alter Zeit wurden viele heute als unmoralisch geltende Praktiken ermutigt. Nicht selten erfüllte großer Stolz die primitiven Ehefrauen über ihrer Ehemänner Liebesabenteuer mit anderen Frauen. Keuschheit war für ein Mädchen ein großes Heiratshindernis, und die Tatsache, schon vor der Heirat ein Kind zur Welt gebracht zu haben, machte ein Mädchen umso begehrenswerter als Ehefrau, war doch der Mann sicher, eine fruchtbare Gefährtin zu erhalten.

82:3.14

Viele primitive Stämme gestatteten Probe-Ehen, bis die Frau schwanger wurde, und dann schritt man zur ordentlichen Hochzeitszeremonie; andere Gruppen wiederum warteten mit der Hochzeitsfeier, bis das erste Kind geboren wurde. War eine Frau unfruchtbar, mussten ihre Eltern sie zurückkaufen, und die Ehe wurde aufgehoben. Die Sitten verlangten, dass jedes Paar Kinder habe.

82:3.15

Diese primitiven Probe-Ehen hatten nicht das Geringste mit irgendwelcher Ausschweifung gemein; es waren ganz einfach ehrliche Fruchtbarkeitstests. Die vertragschließenden Partner heirateten für immer, sobald die Fruchtbarkeit feststand. Wenn moderne Paare bei ihrer Heirat Hintergedanken an eine bequeme Scheidung unterhalten, so ihr Eheleben sie nicht völlig zufrieden stellen sollte, gehen sie in Wirklichkeit eine Art Probe-Ehe ein, aber eine, die im Rang um vieles tiefer steht als die ehrlichen Eheabenteuer ihrer weniger zivilisierten Ahnen.


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