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Ausgießung des Geistes der Wahrheit

4. Anfänge der christlichen Kirche

194:4.1

Als Jesus so plötzlich von seinen Feinden gefasst und so schnell zwischen zwei Dieben gekreuzigt wurde, waren seine Apostel und Jünger völlig demoralisiert. Die Vorstellung von dem verhafteten, gebundenen, ausgepeitschten und gekreuzigten Meister war sogar für die Apostel zu viel. Sie vergaßen seine Lehren und Warnungen. Er mochte tatsächlich ein „an Taten und Worten mächtiger Prophet vor Gott und allem Volk“ gewesen sein, aber er konnte schwer­­lich der Messias sein, von dem sie gehofft hatten, er werde das König­reich Israel wiederherstellen.

194:4.2

Dann kommt die Auferstehung und mit ihr die Befreiung von der Verz­weiflung und die Rückkehr des Glaubens an des Meisters Göttlichkeit. Wieder und wieder sehen sie ihn und sprechen mit ihm, und er führt sie auf den Ölberg, wo er von ihnen Abschied nimmt und ihnen sagt, dass er zum Vater zurückkehrt. Er hat sie geheißen, in Jerusalem zu warten, bis ihnen Macht gegeben werde – bis der Geist der Wahrheit komme. Und am Pfingsttag kommt dieser neue Lehrer, und sie gehen sofort hinaus und predigen ihr Evangelium mit neuer Macht. Sie sind die unerschrockenen und mutigen Anhänger eines lebendigen Herrn, nicht eines toten und unterlegenen Führers. Der Meister lebt in den Herzen dieser Evangelisten; Gott ist in ihrer Vorstellung keine Doktrin; er ist in ihren Seelen lebendige Gegenwart geworden.

194:4.3

„Tag für Tag predigten sie unerschütterlich und einmütig im Tempel weiter und brachen zu Hause das Brot. Sie saßen fröhlichen und aufrichtigen Herzens miteinander bei Tische, priesen Gott und waren beim ganzen Volk beliebt. Sie waren alle vom Geist erfüllt und predigten das Wort Gottes mit Kühnheit. Und die Scharen derer, die glaubten, waren ein Herz und eine Seele; und kein einziger von ihnen sagte, dass irgendetwas von dem, was er besaß, ihm gehöre, und sie teilten alles miteinander.“

194:4.4

Was ist mit diesen Menschen geschehen, denen Jesus aufgetragen hatte, hinauszugehen und das Evangelium vom Königreich, die Vaterschaft Gottes und die Bruderschaft der Menschen, zu predigen? Sie haben ein neues Evangelium; eine neue Erfahrung hat sie entflammt; sie sind von einer neuen geistigen Energie durchdrungen. Ihre Botschaft hat sich plötzlich in die Verkündigung vom auferstandenen Christus verwandelt: „Jesus von Nazareth, den Gott mit mächtigen Werken und Wundern beglaubigt hat, ihn, der nach Gottes Ratschluss und Vorauswissen ausgeliefert wurde, habt ihr gekreuzigt und umgebracht. Er hat die Dinge erfüllt, die Gott durch den Mund aller Propheten vorausgesagt hat. Diesen Jesus hat Gott auferweckt. Gott hat ihn zum Herrn und Christus gemacht. Zur Rechten Gottes ist er verherrlicht worden, und er hat vom Vater das Versprechen des Geistes erhalten und er hat ausgegossen, was ihr seht und hört. Geht in euch, auf dass eure Sünden getilgt werden; auf dass der Vater den Christus sende, der für euch berufen wurde, diesen Jesus, den der Himmel aufnehmen muss bis zur Zeit der Wiederherstellung aller Dinge.“

194:4.5

Das Evangelium vom Königreich, die Botschaft Jesu hatte sich plötzlich in das Evangelium vom Herrn Jesus Christus verwandelt. Die Jünger verkündeten jetzt die Tatsachen seines Lebens, seines Todes und seiner Auferstehung und predigten die Hoffnung auf seine rasche Wiederkehr in diese Welt, damit er das von ihm begonnene Werk abschließe. Die Botschaft der ersten Gläubigen beinhaltete somit das Predigen über die Tatsachen seines ersten Kommens und das Lehren der Hoffnung auf sein zweites Kommen, ein Ereignis, das in ihren Augen kurz bevorstand.

194:4.6

Christus war im Begriff, zum Kredo der sich rasch bildenden Kirche zu werden. Jesus lebt; er ist für die Menschen gestorben; er hat den Geist gegeben; er wird wiederkommen. Jesus erfüllte all ihre Gedanken und bestimmte ihre ganze neue Gottesvorstellung und alles andere. Ihr Enthusiasmus über die neue Dok­trin, dass „Gott der Vater des Herrn Jesus ist“, war zu groß, als dass sie der alten Botschaft gedacht hätten, dass „Gott der liebende Vater aller Menschen ist“ – und sogar jedes Einzelnen. Es ist wahr, dass in diesen frühen Gemeinschaften von Gläubigen eine wunderbare Bekundung brüderlicher Liebe und nie dagewesenen guten Willens aufblühte. Aber es war eine Bruderschaft von Jesusgläubigen und keine Gemeinschaft von Brüdern in der Familie des Königreichs des Vaters im Himmel. Ihr guter Wille erwuchs aus der Liebe, die die Vorstellung von Jesu Selbsthingabe in ihnen wachrief, und nicht aus der Erkenntnis, dass die sterblichen Menschen Brüder sind. Nichtsdestoweniger waren sie von Freude erfüllt, und sie lebten derartig neue und einzigartige Leben, dass sich alle Menschen von ihren Lehren über Jesus angezogen fühlten. Sie begingen den großen Fehler, den lebendigen und bilderreichen Kommentar zum Evangelium vom Königreich an dessen Stelle zu gebrauchen, aber selbst das stellte die größte Religion dar, die die Menschheit je gekannt hatte.

194:4.7

Unverkennbar war in der Welt eine neuartige Gemeinschaft im Entstehen. „Die Menge der Gläubigen übte sich unentwegt in der Lehre und Brüderlichkeit der Apostel, im Brechen des Brotes und in Gebeten.“ Sie nannten sich gegenseitig Bruder und Schwester; sie begrüßten einander mit einem heiligen Kuss; sie standen den Armen bei. Brüderlichkeit herrschte sowohl im Leben wie bei der Anbetung. Dieses Gemeinschaftsleben war nicht verordnet worden, sondern entsprang ihrem Wunsch, ihren Besitz mit ihren Glaubensbrüdern zu teilen. Sie warteten vertrauensvoll darauf, dass Jesus zurückkehren werde, um noch in ihrer Generation die Errichtung des Königreichs des Vaters zu vollenden. Dieses spontane Teilen irdischer Güter gehörte nicht unmittelbar zu Jesu Lehre; es entstand, weil diese Männer und Frauen so aufrichtig und zuversichtlich glaubten, er könne jeden Tag zurückkehren, um sein Werk abzuschließen und das Königreich zu vollenden. Aber die Endresultate dieses gut gemeinten Experiments in unbedachter brüderlicher Liebe waren verheerend und verursachten viel Leid. Tausende von aufrichtigen Gläubigen verkauften ihre Grundstücke und gaben ihr ganzes Vermögen und andere rentable Werte weg. Im Laufe der Zeit schwanden die Mittel des christlichen „gleichmäßigen Teilens“ und gingen zu Ende – aber nicht so die Welt. Schon sehr bald veranstalteten die Gläubigen von Antiochia eine Sammlung, um ihre Glaubensbrüder in Jerusalem vor dem Hunger zu bewahren.

194:4.8

In diesen Tagen feierten sie das Abendmahl des Herrn in seiner ursprünglichen Form; das heißt, sie versammelten sich zu einem geselligen und freundschaftlichen Essen und nahmen am Ende des Mahls am Sakrament teil.

194:4.9

Am Anfang tauften sie im Namen Jesu; fast zwanzig Jahre verstrichen, bevor sie „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ zu taufen begannen. Die Taufe war alles, was verlangt wurde, um in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen zu werden. Sie besaßen noch keine Organisation; sie waren einfach die Jesus-Bruderschaft.

194:4.10

Diese Jesus-Sekte wuchs rasch, und wiederum wurden die Sadduzäer auf sie aufmerksam. Die Pharisäer beunruhigte die Situation kaum angesichts der Tatsache, dass keine der Lehren die Einhaltung der jüdischen Gesetze irgendwie hinderte. Aber die Sadduzäer begannen, die Führer der Jesus-Sekte ins Gefängnis zu werfen, bis sie sich dazu bewegen ließen, der Empfehlung Gamaliels, eines der führenden Rabbiner, zu folgen, der ihnen riet: „Rührt diese Männer nicht an und lasst sie in Ruhe, denn wenn dieser Plan, dieses Werk von Menschen stammt, wird es untergehen; wenn es aber von Gott stammt, werdet ihr nicht fähig sein, diese Leute zu vernichten und es könnte euch dann geschehen, dass ihr euch im Kampf mit Gott befindet.“ Sie beschlossen, dem Rat Gamaliels zu folgen, und darauf begann in Jerusalem eine Zeit des Friedens und der Ruhe, während welcher sich das neue Evangelium über Jesus rasch ausbreitete.

194:4.11

Und so ging alles gut in Jerusalem bis zu der Zeit, da Griechen in großer Zahl von Alexandrien herkamen. Zwei Schüler von Rodan trafen in Jerusalem ein und bekehrten viele aus den Reihen der Hellenisten. Unter ihren ersten Bekehrten befanden sich Stephanus und Barnabas. Diese fähigen Griechen vertraten nicht so sehr den jüdischen Gesichtspunkt und hielten sich nicht besonders eng an die jüdische Art der Anbetung und andere zeremonielle Praktiken. Es war das Verhalten dieser griechischen Gläubigen, das die friedlichen Beziehungen zwischen der Jesus-Bruderschaft und den Pharisäern und Sadduzäern beendete. Stephanus und seine griechischen Gefährten begannen, mehr nach Jesu Art zu lehren, und das brachte sie in unmittelbaren Konflikt mit den jüdischen Führern. Als Stephanus während einer seiner öffentlichen Predigten an einen Punkt kam, der Anstoß erregte, verzichteten sie auf alle Formalitäten eines Prozesses und steinigten ihn auf der Stelle zu Tode.

194:4.12

So wurde Stephanus, der Führer der griechischen Kolonie von Jesusgläubigen in Jerusalem, zum ersten Märtyrer des neuen Glaubens und zum konkreten Anlass für die formelle Organisation der frühen christlichen Kirche. Man gewann aus dieser neuen Krise die Einsicht, dass die Gläubigen nicht länger als Sekte innerhalb des jüdischen Glaubens weiter bestehen konnten. Sie stimmten alle darin überein, sich von den Nichtglaubenden trennen zu müssen; und innerhalb eines Monats nach Stephanus‘ Tod war die Kirche in Jerusalem unter Führung von Petrus organisiert und Jakobus, Jesu Bruder, als nominelles Oberhaupt eingesetzt worden.

194:4.13

Und dann begannen die neuen und schonungslosen Verfolgungen durch die Juden, so dass die aktiven Lehrer der neuen Religion über Jesus, die später in Antiochia Christentum genannt wurde, Jesus bis an die Enden des Kaiserreichs verkünden gingen. Die Führung bei der Verbreitung dieser Botschaft lag vor Paulus‘ Zeiten in griechischen Händen; und diese ersten Missionare folgten ebenso wie die späteren dem Weg des einstigen Alexanderzuges über Gaza und Tyrus nach Antiochia, dann über Kleinasien nach Mazedonien und weiter nach Rom und bis in die entferntesten Teile des Kaiserreichs.


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