Bevor die Soldaten den Prätoriumshof verließen, luden sie den Kreuzesbalken auf Jesu Schultern. Es war üblich, den Verurteilten zu zwingen, den Querbalken bis an den Ort der Kreuzigung zu tragen. Der Verurteilte trug nicht das ganze Kreuz, sondern nur dessen kürzeren Balken. Die längeren senkrechten Holzbalken für die drei Kreuze hatte man schon vorher nach Golgatha gebracht, und sie waren bereits fest in den Boden gerammt worden, als die Soldaten mit ihren Gefangenen anlangten.
Dem Brauch entsprechend, führte der Hauptmann die Prozession an. Er trug weiße Holztäfelchen, auf denen mit Kohle die Namen der Verbrecher und die Art des Verbrechens, für das sie verurteilt worden waren, geschrieben standen. Für die beiden Diebe hatte der Hauptmann Tafeln, die ihre Namen angaben, und darunter stand nur das eine Wort „Räuber“. War das Opfer einmal am Querbalken festgenagelt und an seinen Platz am senkrechten Balken gehoben worden, pflegte man diese Inschrift oben am Kreuz gerade über dem Kopf des Verbrechers anzunageln, damit alle Zeugen erfahren konnten, für welches Verbrechen der Verurteilte gekreuzigt wurde. Der Text, den der Zenturio trug, um ihn an Jesu Kreuz anzubringen, war von Pilatus eigenhändig auf Lateinisch, Griechisch und Aramäisch geschrieben worden, und lautete: „Jesus von Nazareth – der König der Juden“.
Einige jüdische Würdenträger, die noch zugegen waren, als Pilatus diesen Text schrieb, erhoben heftigen Protest dagegen, Jesus den „König der Juden“ zu nennen. Aber Pilatus erinnerte sie daran, dass gerade diese Anschuldigung ein Teil der Anklage war, die zu seiner Verurteilung führte. Als die Juden sahen, dass sie Pilatus nicht umzustimmen vermochten, baten sie dringend darum, den Wortlaut zumindest in „er sagte: ‚Ich bin der König der Juden‘“ abzuändern. Aber Pilatus blieb unnachgiebig; er weigerte sich, die Inschrift zu ändern. Auf all ihr weiteres Flehen antwortete er nur: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.“
Gewöhnlich pflegte man auf dem längsten Weg nach Golgatha zu gehen, um einer großen Zahl von Menschen Gelegenheit zu geben, den verurteilten Verbrecher zu sehen, aber an diesem Tag gingen sie auf dem kürzesten Weg zum Damaskustor, das im Norden aus der Stadt hinausführte, und über diese Straße gelangten sie bald nach Golgatha, dem offiziellen Kreuzigungsort Jerusalems. Jenseits von Golgatha standen die Villen der Reichen, und auf der anderen Seite der Straße befanden sich viele Gräber wohlhabender Juden.
Die Kreuzigung war keine jüdische Form der Bestrafung. Sowohl Griechen wie Römer hatten diese Hinrichtungsmethode von den Phöniziern gelernt. Nicht einmal Herodes bei all seiner Grausamkeit wandte die Kreuzigung an. Nie kreuzigten die Römer einen römischen Bürger; nur Sklaven und unterjochte Völker wurden dieser entehrenden Todesart unterworfen. Während der Belagerung von Jerusalem, genau vierzig Jahre nach Jesu Kreuzigung, war ganz Golgatha von Tausenden und Abertausenden von Kreuzen übersät, an denen Tag für Tag die Blüte der jüdischen Rasse dahinstarb. Wahrlich eine entsetzliche Ernte dessen, was an diesem Tag gesät wurde.
Als sich die Todesprozession durch die engen Gassen Jerusalems fortbewegte, konnten viele zartfühlende Jüdinnen, die Jesu Worte der Ermutigung und des Erbarmens gehört hatten und die um sein Leben des Dienens in Liebe wussten, ihre Tränen nicht zurückhalten, als sie sahen, wie er vorbeigeführt wurde, um eines so schmachvollen Todes zu sterben. Als er vorüberging, seufzten und wehklagten viele dieser Frauen. Und als einige von ihnen es sogar wagten, an seiner Seite mitzugehen, wandte der Meister seinen Kopf nach ihnen um und sagte: „Ihr Töchter Jerusalems, beweint nicht mich, sondern beweint vielmehr euch und eure Kinder. Mein Werk ist so gut wie getan – ich gehe bald zu meinem Vater – aber für Jerusalem beginnen gerade erst die Zeiten schrecklicher Wirrnisse. Seht, die Tage kommen, wo ihr sagen werdet: Gesegnet sind die Unfruchtbaren und die, deren Brüste nie Kinder gesäugt haben. In jenen Tagen werdet ihr die Felsen der Berge anflehen, sich auf euch herabzustürzen, um euch von dem Entsetzen eurer Leiden zu befreien.“
Diese Frauen von Jerusalem zeigten wahrhaft Mut, als sie Jesus ihr Mitgefühl ausdrückten, denn es verstieß strikt gegen das Gesetz, freundliche Gefühle für einen zu zeigen, der zur Kreuzigung geführt wurde. Der Pöbel durfte den Verurteilten verhöhnen, verspotten und verlachen, aber es war nicht erlaubt, irgendwelche Sympathie für ihn auszudrücken. Obwohl Jesus die Sympathiekundgebung in dieser finsteren Stunde, da seine Freunde sich versteckt hielten, schätzte, wollte er doch nicht, dass diese gütigen Frauen das Missfallen der Behörden auf sich zögen, weil sie es wagten, ihm ihr Mitleid zu zeigen. Sogar in einem Augenblick wie diesem dachte Jesus kaum an sich selbst, sondern nur an die schrecklichen Tage der Tragödie, die Jerusalem und der ganzen jüdischen Nation bevorstanden.
Als der Meister sich auf dem Weg zur Kreuzigung mühsam fortschleppte, war er sehr matt; er war nahezu erschöpft. Seit dem Letzten Abendmahl im Hause des Elija Markus hatte er weder Nahrung noch Wasser zu sich genommen, noch hatte man ihm einen Augenblick Schlaf gegönnt. Zusätzlich hatte es bis zur Stunde seiner Verurteilung ein Verhör nach dem anderen gegeben, ganz zu schweigen von der missbräuchlichen Auspeitschung und dem damit verbundenen Blutverlust und den physischen Schmerzen. Zu all dem traten seine äußerste seelische Qual, seine heftige geistige Anspannung und ein entsetzliches Gefühl menschlicher Verlassenheit.
Als Jesus, mit dem Kreuzesbalken beladen, auf dem Weg aus der Stadt kurz nach Durchschreiten des Tores ins Wanken geriet, gaben seine physischen Kräfte vorübergehend nach, und er stürzte unter dem Gewicht seiner schweren Last zu Boden. Die Soldaten schrieen ihn an und versetzten ihm Fußtritte, aber er vermochte sich nicht zu erheben. Als der Hauptmann, der wusste, was Jesus schon alles erlitten hatte, das sah, gebot er den Soldaten, von ihm abzulassen. Dann befahl er einem gewissen Simon von Kyrene, der gerade vorüberging, den Kreuzesbalken von Jesu Schultern zu nehmen, und zwang ihn, den Balken auf dem restlichen Weg bis nach Golgatha zu tragen.
Dieser Simon hatte die ganze Reise von Kyrene in Nordafrika her gemacht, um am Passahfest teilzunehmen. Er war mit anderen Kyrenern etwas außerhalb der Stadtmauern abgestiegen und befand sich auf dem Weg zu den Tempelgottesdiensten in der Stadt, als der römische Hauptmann ihm befahl, Jesu Kreuzesbalken zu tragen. Simon blieb während der ganzen Todesstunden des Meisters am Kreuz und sprach mit vielen seiner Freunde und mit seinen Feinden. Nach der Auferstehung und noch bevor er Jerusalem verließ, wurde er zu einem kühnen Bekenner des Evangeliums vom Königreich, und bei seiner Heimkehr führte er seine Familie in das himmlische Königreich. Seine beiden Söhne Alexander und Rufus wurden sehr erfolgreiche Lehrer des neuen Evangeliums in Afrika. Aber Simon wusste nie, dass Jesus, dessen Last er getragen, und der jüdische Lehrer, der sich einst seines verletzten Sohnes angenommen hatte, ein und dieselbe Person waren.
Kurz nach neun kam die Todesprozession in Golgatha an, und die römischen Soldaten machten sich an ihr Werk, die beiden Räuber und den Menschensohn an ihre Kreuze zu nageln.