◄ 176:1
Schrift 176
176:3 ►

Am Dienstagabend auf dem Ölberg

2. Des Meisters zweites Kommen

176:2.1

Bei mehreren Gelegenheiten hatte Jesus Äußerungen gemacht, die seine Hörer folgern ließen, dass er wohl in Kürze diese Welt zu verlassen gedenke, aber mit Sicherheit wiederkehren würde, um das Werk des himmlischen Königreichs zu vollenden. Als bei seinen Anhängern die Überzeugung wuchs, dass er sie verlassen würde, und als er dann diese Welt verlassen hatte, war es nur natürlich, dass alle Gläubigen sich fest an diese Versprechen seiner Rückkehr klammerten. So wurde den Lehren der Christen schon früh die Doktrin vom zweiten Kommen Christi einverleibt, und fast jede spätere Generation von Jüngern hat inbrünstig an diese Wahrheit geglaubt und vertrauensvoll und freudig sein künftiges Kommen erwartet.

176:2.2

Da sie sich von ihrem Meister und Lehrer trennen mussten, klammerten sich die ersten Jünger und die Apostel umso stärker an dieses Versprechen der Wiederkehr, und sofort brachten sie die vorausgesagte Zerstörung Jerusalems mit dem versprochenen zweiten Kommen in Verbindung. Und sie fuhren fort, seine Worte in diesem Sinne auszulegen, obwohl sich der Meister während dieser abendlichen Unterweisung auf dem Ölberg ganz besonders darum bemühte, gerade einem solchen Irrtum vorzubeugen.

176:2.3

Zur Frage von Petrus führte Jesus weiter aus: „Warum wartet ihr immer noch darauf, dass der Menschensohn sich auf Davids Thron setze und sich die materiellen Träume der Juden erfüllten? Habe ich euch nicht all die Jahre hindurch gesagt, dass mein Königreich nicht von dieser Welt ist? Das, worauf ihr eben jetzt herabschaut, geht seinem Ende entgegen, aber es wird zugleich ein Neubeginn sein, durch den das Evangelium vom Königreich in die ganze Welt hinausgetragen und sich das Heil unter allen Völkern ausbreiten wird. Wenn das Königreich einst zu voller Blüte gelangt sein wird, könnt ihr sicher sein, dass der Vater im Himmel euch ohne Frage eine erweiterte Offenbarung der Wahrheit und eine höhere Bekundung von Rechtschaffenheit gewähren wird, in derselben Weise, wie er dieser Welt bereits denjenigen geschenkt hat, der zum Fürsten der Finsternis geworden ist, und nach ihm Adam, auf den Melchisedek und in diesen Tagen der Menschensohn gefolgt sind. Und so wird mein Vater fortfahren, seine Barmherzigkeit zu zeigen und seine Liebe kundzutun, auch gegenüber dieser finsteren und schlechten Welt. Ebenso will ich, wenn mein Vater mir alle Macht und Autorität übertragen hat, weiterhin euer Schicksal verfolgen und euch in den Dingen des Königreichs durch die Anwesenheit meines Geistes leiten, der in Kürze über alle Sterblichen ausgegossen werden wird. Und obwohl ich in dieser Weise im Geiste bei euch anwesend sein werde, verspreche ich auch, dass ich irgendwann auf die Welt zurückkehren werde, wo ich dieses Leben als Sterblicher gelebt und die Erfahrung erlangt habe, gleichzeitig Gott den Menschen zu offenbaren und die Menschen zu Gott zu führen. Ich muss euch sehr bald verlassen und das Werk weiterführen, das der Vater meinen Händen anvertraut hat, aber seid guten Mutes, denn ich werde irgendwann wiederkehren. In der Zwischenzeit soll mein Geist der Wahrheit eines Universums euch ermutigen und führen.

176:2.4

Ihr seht mich jetzt in Schwachheit und in einem Körper, aber wenn ich wiederkehre, wird es mit Macht und im Geist sein. Das leibliche Auge nimmt den verkörperten Menschensohn wahr, aber nur das Auge des Geistes wird den vom Vater verherrlichten und in seinem eigenen Namen auf Erden erscheinenden Menschensohn erkennen.

176:2.5

Aber die Zeit der Wiederkunft des Menschensohns ist nur den Räten des Paradieses bekannt; nicht einmal die Engel des Himmels wissen, wann sie stattfinden wird. Ihr solltet aber dieses verstehen: Wenn das Evangelium vom Königreich dereinst der ganzen Welt zum Heil aller Völker verkündet worden ist und wenn das Zeitalter erfüllt ist, wird der Vater euch eine neue Dispensations-Gnadengabe senden, oder aber der Menschensohn wird zurückkehren, um das Zeitalter zu richten.

176:2.6

Was nun das Leiden Jerusalems betrifft, von dem ich euch gesprochen habe, so wird diese Generation nicht vergehen, ehe sich meine Worte erfüllt haben; was dagegen den Zeitpunkt der Wiederkehr des Menschensohnes anlangt, so maße sich niemand im Himmel oder auf Erden an, darüber zu reden. Aber ihr solltet so weise sein, das Reifen eines Zeitalters zu beobachten; ihr solltet wachen Sinnes sein, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Wenn am Feigenbaum die zarten Zweige sprießen und die Blätter erscheinen, wisst ihr, dass der Sommer naht. In derselben Weise solltet ihr, nachdem die Welt durch den langen Winter materialistischer Einstellung gegangen ist und ihr das Kommen des geistigen Frühlings einer neuen Dispensation feststellt, wissen, dass der Sommer einer neuen Visitation naht.

176:2.7

Aber was für eine Bedeutung hat diese Lehre vom Kommen der Söhne Gottes? Erkennt ihr nicht, dass sich jeder von euch im Augenblick, da er aufgerufen wird, seinen Lebenskampf aufzugeben und durch die Pforte des Todes zu gehen, in der unmittelbaren Gegenwart des Gerichts befindet und sich direkt den Tatsachen einer neuen Dispensation des Dienstes im ewigen Plan des unendlichen Vaters gegenübersieht? Was die ganze Welt am Ende eines Zeitalters als eine feststehende Tatsache zu gewärtigen hat, hat jeder einzelne von euch mit größter Sicherheit als persönliche Erfahrung zu gewärtigen, wenn er am Ende seines natürlichen Lebens anlangt und sich den Bedingungen und Forderungen gegenübersieht, die der nächsten Offenbarung des sich ewig vorwärtsbewegenden Königreichs des Vaters innewohnen.“

176:2.8

Von allen Ansprachen, die der Meister an seine Apostel richtete, hinterließ keine in ihren Gedanken eine solche Verwirrung wie jene vom Dienstagabend auf dem Ölberg über das zweifache Thema der Zerstörung Jerusalems und seines eigenen zweiten Kommens. Deshalb gab es wenig Übereinstimmung zwischen den späteren schriftlichen Berichten, die auf der Erinnerung an das fußten, was der Meister bei dieser außerordentlichen Gelegenheit gesagt hatte. Demzufolge entstanden viele Überlieferungen aufgrund der Tatsache, dass sich die Aufzeichnungen über so manches ausschwiegen, was an jenem Dienstagabend gesagt worden war; und gleich zu Beginn des zweiten Jahrhunderts wurde eine jüdische Apokalyptik über den Messias, dessen Verfasser ein zum Hof des Kaisers Caligula gehörender gewisser Selta war, als Ganzes dem Matthäusevangelium einverleibt und später (teilweise) den Aufzeichnungen von Markus und Lukas hinzugefügt. In diesen Schriften des Selta tauchte auch das Gleichnis von den zehn Jungfrauen auf. Kein Teil der Evangeliumsberichte hat eine so verwirrende Missdeutung erfahren wie gerade die Unterweisung dieses Abends. Aber der Apostel Johannes geriet nie in eine derartige Verwirrung.

176:2.9

Als die dreizehn Männer ihren Weg zum Lager fortsetzten, waren sie stumm und standen unter einer großen gefühlsmäßigen Spannung. In Judas hatte sich der Entschluss, seine Gefährten zu verlassen, endgültig gefestigt. Es war schon spät am Abend, als David Zebedäus, Johannes Markus und eine Anzahl führender Jünger Jesus und die Zwölf in dem neuen Lager willkommen hießen, aber die Apostel wollten nicht schlafen gehen; sie wollten noch mehr wissen über die Zerstörung Jerusalems, über des Meisters Weggang und das Ende der Welt.


◄ 176:1
 
176:3 ►