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Das Königreich des Himmels

2. Jesu Vorstellung vom Königreich

170:2.1

Der Meister machte klar, dass das Königreich des Himmels mit dem doppelten Konzept von der Wahrheit der Vaterschaft Gottes und von der damit verbundenen Tatsache der Bruderschaft der Menschen beginnen und darin seinen Mittelpunkt haben muss. Jesus erklärte, dass die Annahme solch einer Lehre den Menschen von der Jahrtausende alten Knechtung durch animalische Furcht befreien und das menschliche Leben zugleich mit den folgenden Gaben des neuen Lebens geistiger Freiheit bereichern würde:

170:2.2

1. Besitz neuen Mutes und vermehrter geistiger Macht. Das Evangelium vom Königreich war dazu bestimmt, den Menschen zu befreien und ihn zu inspirieren, wagemutig auf das ewige Leben zu hoffen.

170:2.3

2. Das Evangelium brachte allen Menschen und selbst den Armen eine Botschaft neuen Vertrauens und wahren Trostes.

170:2.4

3. Es stellte in sich selber eine neue Norm sittlicher Werte dar, einen neuen ethischen Maßstab, der an die menschliche Lebensführung angelegt werden konnte. Es entwarf das Ideal einer daraus hervorgehenden neuen Ordnung der menschlichen Gesellschaft.

170:2.5

4. Es lehrte den Vorrang des Geistigen gegenüber dem Materiellen; es verherrlichte geistige Realitäten und pries übermenschliche Ideale.

170:2.6

5. Das neue Evangelium erhob geistige Errungenschaften zum wahren Lebensziel. Das menschliche Leben wurde mit neuen sittlichen Werten und mit neuer göttlicher Würde ausgestattet.

170:2.7

6. Jesus lehrte, dass die ewigen Realitäten das Resultat (die Belohnung) rechtschaffenen irdischen Bemühens seien. Der irdische Aufenthalt des sterblichen Menschen erlangte neue Bedeutungen dank der Wahrnehmung einer edlen Bestimmung.

170:2.8

7. Das neue Evangelium versicherte, dass die menschliche Errettung die Offenbarung eines weitgesteckten göttlichen Planes ist, der sich in der zukünftigen Bestimmung endlosen Dienens der erretteten Söhne Gottes erfüllt und verwirklicht.

170:2.9

Diese Lehren umfassen die erweiterte Idee vom Königreich, die Jesus vermittelte. Diese großartige Vorstellung war in den elementaren und verworrenen Lehren Johannes‘ des Täufers über das Königreich kaum enthalten.

170:2.10

Die Apostel waren unfähig, die wahre Bedeutung der Äußerungen Jesu zu erfassen, die das Königreich betrafen. Die spätere Entstellung von Jesu Lehren, wie sie im Neuen Testament aufgezeichnet sind, rührt daher, dass die Vorstellung der Evangelienverfasser vom Glauben durchdrungen war, Jesus sei nur für kurze Zeit von der Erde abwesend und werde bald wiederkehren, um das Königreich in Macht und Herrlichkeit zu errichten – genau die Vorstellung, die sie gehabt hatten, als er als Mensch unter ihnen weilte. Aber Jesus verband die Errichtung des Königreichs nicht mit der Idee seiner Rückkehr in diese Welt. Dass Jahrhunderte ohne Zeichen der Ankunft eines „Neuen Zeitalters“ vergangen sind, steht in keiner Weise im Widerspruch zu Jesu Lehre.

170:2.11

Das große Bestreben dieser Predigt war der Versuch, die Vorstellung vom Königreich in das Ideal der Idee, den Willen des Vaters zu tun, umzuwandeln. Seit langem lehrte der Meister seine Anhänger beten: „Dein Königreich komme; dein Wille geschehe“; und jetzt versuchte er ernstlich, sie dahin zu bringen, den Ausdruck Königreich Gottes zugunsten des praktischeren, gleichbedeutenden Ausdrucks der Wille Gottes aufzugeben. Aber es gelang ihm nicht.

170:2.12

Jesus wünschte, die Vorstellung von einem Königreich mit König und Untertanen zu ersetzen durch die Idee von der himmlischen Familie, dem himmlischen Vater und den befreiten Söhnen Gottes, die sich dem freudigen und freiwilligen Dienst an ihren Mitmenschen und der sublimen und intelligenten Anbetung Gottes, des Vaters widmen.

170:2.13

Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Apostel zu einer doppelten Betrach­tungs­weise des Königreichs gekommen; sie begriffen es als:

170:2.14

1. Eine Angelegenheit vorhandener persönlicher Erfahrung in den Herzen der wahren Gläubigen, und

170:2.15

2. Eine Angelegenheit rassischer oder weltlicher Phänomene; das König­reich lag in der Zukunft und war etwas, worauf man sich freuen konnte.

170:2.16

Sie betrachteten das Kommen des Königreichs in den Herzen der Menschen als eine schrittweise Entwicklung, vergleichbar der Hefe im Teig oder dem Wachsen des Senfkorns. Sie glaubten, das Königreich im rassischen oder weltlichen Sinn würde auf plötzliche und Aufsehen erregende Weise kommen. Jesus wurde nie müde, ihnen zu sagen, das Königreich des Himmels sei ihre persönliche Erfahrung der Wahrnehmung höherer Qualitäten geistigen Lebens, und dass diese Realitäten geistiger Erfahrung fortschreitend auf immer neue und höhere Ebenen göttlicher Gewissheit und ewiger Größe übergingen.

170:2.17

An diesem Nachmittag lehrte der Meister deutlich ein neues Konzept der Doppelnatur des Königreichs, indem er die folgenden zwei Phasen beschrieb:

170:2.18

„Erstens. Das Königreich Gottes in dieser Welt, der höchste Wunsch, den Willen Gottes zu tun, die selbstlose Liebe des Menschen, die die guten Früchte eines verbesserten ethischen und sittlichen Verhaltens hervorbringt.

170:2.19

Zweitens. Das Königreich Gottes im Himmel, das Ziel der sterblichen Gläubigen, der Zustand, in dem die Liebe zu Gott vervollkommnet und der Wille Gottes auf göttlichere Weise getan wird.“

170:2.20

Jesus lehrte, dass der Gläubige kraft seines Glaubens jetzt ins Königreich eintritt. In seinen verschiedenen Reden lehrte er, dass zwei Dinge wesentlich sind, um durch den Glauben in das Königreich einzutreten:

170:2.21

1. Glaube, Aufrichtigkeit. Zu kommen wie ein kleines Kind, um die Gabe der Sohnschaft als ein Geschenk zu empfangen; sich dem Willen des Vaters ohne zu zweifeln in völliger Sicherheit und mit echtem Vertrauen in seine Weisheit zu fügen; vorurteilsfrei und vorbehaltlos in das Königreich einzutreten; offenen Sinnes und belehrbar zu sein wie ein unverdorbenes Kind.

170:2.22

2. Hunger nach Wahrheit. Durst nach Rechtschaffenheit, ein Sinnes­wandel, Erlangung des Antriebs, Gott zu gleichen und ihn zu finden.

170:2.23

Jesus lehrte, dass die Sünde nicht das Kind einer mangelhaften Veranlagung ist, sondern vielmehr das Erzeugnis eines wissenden Verstandes, der von einem rebellischen Willen beherrscht wird. Bezüglich der Sünde lehrte er, dass Gott bereits vergeben hat und dass wir persönlich zu dieser Vergebung gelangen können, indem wir unseren Nächsten verzeihen. Wenn ihr eurem menschlichen Bruder vergebt, schafft ihr dadurch in eurer eigenen Seele die Fähigkeit zum Empfang der tatsächlichen Vergebung eurer Missetaten durch Gott.

170:2.24

Bis zu der Zeit, als der Apostel Johannes die Geschichte von Jesu Leben und Lehren aufzuschreiben begann, hatten die frühen Christen mit der Idee vom Königreich Gottes als der Ursache von Verfolgung so viel Unannehmlichkeiten erlebt, dass sie auf den Gebrauch des Ausdrucks weitgehend verzichtet hatten. Johannes spricht viel vom „ewigen Leben“. Jesus sprach oft vom „Königreich des Lebens“. Er bezog sich auch oft auf das „Königreich Gottes in euch“. Einmal sprach er von dieser Erfahrung als von der „Familiengemeinschaft mit Gott dem Vater“. Jesus versuchte es mit vielen anderen Ausdrücken als Ersatz für Königreich, aber immer ohne Erfolg. Er gebrauchte unter anderem: die Familie Gottes, des Vaters Wille, die Freunde Gottes, die Gemeinschaft der Gläubigen, die Bruderschaft der Menschen, des Vaters Herde, die Kinder Gottes, die Gemeinschaft der Getreuen, der Dienst des Vaters und die befreiten Söhne Gottes.

170:2.25

Aber er kam nicht um den Gebrauch der Idee des Königreichs herum. Erst mehr als fünfzig Jahre später, nach der Zerstörung Jerusalems durch die römischen Armeen, begann sich diese Vorstellung vom Königreich in den Kult des ewigen Lebens zu verwandeln, während ihre sozialen und institutionellen Aspekte von der rasch expandierenden und feste Formen annehmenden Kirche in die Hand genommen wurden.


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