Bis Mitte des Nachmittags hatte Josias Heilung im Umkreis des Tempels derartige Diskussionen erregt, dass die Führer des Sanhedrins beschlossen, den Rat an seinem üblichen Tagungsort im Tempel einzuberufen. Und sie taten dies unter Verletzung einer bestehenden Regel, die es dem Sanhedrin verbot, am Sabbattag zusammenzutreten. Jesus wusste, dass Sabbatbruch eine der gegen ihn erhobenen Hauptanklagen sein würde, wenn die letzte Prüfung käme, und er wollte aufgrund der Anklage, am Sabbattag einen Blinden geheilt zu haben, vor den Sanhedrin geführt werden, wenn die Versammlung des hohen jüdischen Gerichtshofs, die über ihn wegen dieses Aktes der Barmherzigkeit zu Gericht säße, über die Angelegenheit gerade an einem Sabbattag und unter direkter Verletzung ihrer eigenen, selbstauferlegten Gesetze beraten würde.
Aber sie zitierten Jesus nicht vor sich; sie fürchteten sich davor. Stattdessen schickten sie nach Josia. Nach einigen einleitenden Fragen forderte der Sprecher des Sanhedrins, von dessen Mitgliedern etwa fünfzig anwesend waren, Josia auf, ihnen zu erzählen, was mit ihm geschehen war. Seit seiner Heilung am Vormittag hatte Josia durch Thomas, Nathanael und andere erfahren, dass die Pharisäer über seine Heilung an einem Sabbat erbost waren und wahrscheinlich allen Beteiligten Schwierigkeiten machen würden; aber Josia begriff noch nicht, dass Jesus derjenige war, den man den Befreier nannte. So gab er auf die Fragen der Pharisäer zur Antwort: „Dieser Mann kam daher, legte Lehm auf meine Augen und gebot mir, mich in Siloa waschen zu gehen, und ich kann jetzt wirklich sehen.“
Nach einer langatmigen Rede sagte einer der älteren Pharisäer: „Dieser Mann kann nicht von Gott sein, da er sich, wie ihr seht, nicht an den Sabbat hält. Er bricht das Gesetz erstens, indem er den Lehm macht, und zweitens, indem er diesen Bettler am Sabbattag nach Siloa schickt, um sich zu waschen. Ein solcher Mann kann kein von Gott gesandter Lehrer sein.“
Da sagte einer der jüngeren Männer, der heimlich an Jesus glaubte: „Wie kann dieser Mann solche Dinge tun, wenn er nicht von Gott gesandt ist? Wir wissen, dass ein gewöhnlicher Sünder keine solchen Wunder wirken kann. Wir alle kennen diesen Bettler und wissen, dass er blind geboren wurde; jetzt sieht er. Wollt ihr immer noch sagen, dass dieser Prophet all seine Wunder durch die Macht des Teufelsfürsten tut?“ Und für jeden Pharisäer, der Jesus anzuklagen und anzuprangern wagte, erhob sich ein anderer, der verwirrende und unbequeme Fragen stellte, so dass sie sich ernsthaft zu spalten begannen. Als der Vorsitzende sah, wohin sie trieben, ging er, um die Diskussion zu beruhigen, dazu über, den Mann selber zu befragen. Er wandte sich an Josia und sprach: „Was hast du über diesen Mann, diesen Jesus zu sagen, von dem du behauptest, er habe dir die Augen geöffnet?“ Und Josia antwortete: „Ich denke, er ist ein Prophet.“
Die Führer waren sehr beunruhigt, und in ihrer Ratlosigkeit beschlossen sie, Josias Eltern kommen zu lassen, um von ihnen zu erfahren, ob er tatsächlich blind zur Welt gekommen war. Sie waren nicht gewillt, an die Heilung des Bettlers zu glauben.
Jedermann in Jerusalem wusste, dass nicht nur Jesus der Zutritt zu allen Synagogen verwehrt war, sondern dass alle, die an seine Lehre glaubten, ebenfalls aus der Synagoge ausgestoßen, aus der Versammlung Israels exkommuniziert wurden; und das bedeutete die Aberkennung aller Rechte und Privilegien im ganzen Judentum mit Ausnahme des Rechts, sich das Lebensnotwendige zu kaufen.
Deshalb fürchteten sich Josias Eltern, arme und verängstigte Seelen, frei zu sprechen, als sie vor dem ehrwürdigen Sanhedrin erschienen. Der Gerichtssprecher sagte: „Ist das euer Sohn? Und haben wir richtig verstanden, dass er blind geboren wurde? Wenn das wahr ist, wie kommt es, dass er jetzt sehen kann?“ Da antwortete Josias Vater, unterstützt von seiner Mutter: „Wir wissen, dass das unser Sohn ist, und dass er blind zur Welt kam, aber wie es kommt, dass er sehen kann, und wer ihm seine Augen geöffnet hat, wissen wir nicht. Fragt ihn; er ist mündig; lasst ihn für sich selber sprechen.“
Jetzt ließen sie Josia ein zweites Mal vortreten. Sie kamen mit ihrem Vorgehen, eine förmliche Gerichtsverhandlung abzuhalten, nicht gut voran, und einige hatten ein merkwürdiges Gefühl dabei, dies an einem Sabbat zu tun. Deshalb versuchten sie, als sie Josia erneut aufriefen, ihn durch eine veränderte Taktik in die Falle zu locken. Der Gerichtsvorsitzende sagte zu dem zuvor Blinden: „Warum gibst du nicht Gott die Ehre dafür? Warum verschweigst du uns die volle Wahrheit über das, was sich ereignet hat? Wir alle wissen, dass dieser Mann ein Sünder ist. Warum weigerst du dich, die Wahrheit zu erkennen? Du weißt, dass du und dieser Mann euch des Sabbatbruchs schuldig gemacht habt. Willst du deine Sünde nicht wieder gutmachen, indem du Gott als deinen Heiler anerkennst, wenn du an deiner Behauptung festhältst, deine Augen seien heute geöffnet worden?“
Aber Josia war weder einfältig noch humorlos; also antwortete er dem Gerichtsvorsitzenden: „Ob dieser Mann ein Sünder ist, weiß ich nicht; aber eines weiß ich – dass ich, während ich vorher blind war, jetzt sehe.“ Und da sie Josia nicht in Widerspruch verwickeln konnten, versuchten sie es mit einer anderen Frage: „Wie ist er genau vorgegangen, als er deine Augen geöffnet hat? Was hat er tatsächlich mit dir getan? Was hat er zu dir gesagt? Hat er von dir verlangt, an ihn zu glauben?“
Mit einiger Ungeduld antwortete Josia: „Ich habe euch genau erzählt, wie sich alles zugetragen hat, und wenn ihr meiner Aussage nicht glaubt, warum wollt ihr sie dann noch einmal hören? Wollt ihr etwa auch seine Jünger werden?“ Nach diesen Worten Josias löste sich der Sanhedrin in Verwirrung, fast gewalttätig, auf, denn die Führer stürzten sich auf Josia und riefen im Zorn: „Du magst von dir sagen, ein Jünger dieses Mannes zu sein, wir aber sind die Jünger Mose, und wir sind die Lehrer der Gesetze Gottes. Wir wissen, dass Gott durch Moses gesprochen hat, aber was diesen Mann Jesus betrifft, wissen wir nicht, woher er kommt.“
Da stieg Josia auf einen Schemel und rief in die Runde zu allen, die es hören konnten: „Hört, die ihr beansprucht, die Lehrer ganz Israels zu sein, und lasst mich euch erklären, dass es hier ein großes Wunder gibt, da ihr gesteht, nicht zu wissen, woher dieser Mann kommt, und doch aus dem Zeugnis, das ihr gehört habt, mit Bestimmtheit wisst, dass er meine Augen geöffnet hat. Wir wissen alle, dass Gott solche Dinge nicht für die Gottlosen tut; dass Gott so etwas nur auf die Bitte eines wahrhaft Frommen – eines Heiligen und Rechtschaffenen – tut. Ihr wisst, dass ihr seit Bestehen der Welt nie von einem Blindgeborenen gehört habt, dessen Augen geöffnet wurden. Schaut mich also an, ihr alle, und begreift, was am heutigen Tag in Jerusalem getan worden ist! Ich sage euch, wenn dieser Mann nicht von Gott wäre, könnte er so etwas nicht tun.“ Die Sanhedristen gingen wutentbrannt und verwirrt auseinander und riefen Josia im Weggehen zu: „Du bist ganz und gar in Sünde geboren, und jetzt maßest du dir an, uns zu belehren? Vielleicht bist du gar nicht wirklich blind zur Welt gekommen, und selbst wenn deine Augen am Sabbattag geöffnet worden sind, geschah es durch die Macht des Teufelsfürsten.“ Und sie begaben sich unverzüglich zur Synagoge, um Josia auszustoßen.
Bei Prozessbeginn hatte Josia nur vage Vorstellungen über Jesus und über die Natur seiner Heilung gehabt. Das meiste seines wagemutigen Zeugnisses, das er so klug und unerschrocken vor diesem höchsten Gerichtshof ganz Israels ablegte, entwickelte sich in seinem Verstand, während der Prozess auf eine so unfaire und ungerechte Weise ablief.