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Rodan von Alexandrien

4. Die Ausgewogenheit der Reife

160:4.1

Obwohl euer ganzes Streben auf das Erreichen ewiger Realitäten ausgerichtet sein soll, müsst ihr doch Vorkehrungen für die Bedürfnisse des zeitlichen Lebens treffen. Der Geist ist zwar unser Ziel, aber das Fleisch ist eine Tatsache. Gelegentlich mag uns das Lebensnotwendige zufällig in die Hände fallen, aber im Allgemeinen müssen wir intelligent dafür arbeiten. Die zwei Hauptprobleme des Lebens sind: für seinen irdischen Unterhalt sorgen und das ewige Leben erreichen. Und selbst das Problem des Lebensunterhaltes bedarf zu seiner idealen Lösung der Religion. Beide Probleme sind im höchsten Maße persönlich. Wahre Religion kann tatsächlich nicht vom Einzelwesen getrennt funktionieren.

160:4.2

Die wesentlichen Dinge des zeitlichen Lebens sind meiner Ansicht nach:

160:4.3

1. Gute physische Gesundheit.

160:4.4

2. Klares und sauberes Denken.

160:4.5

3. Begabung und Geschicklichkeit.

160:4.6

4. Reichtum – die Lebensgüter.

160:4.7

5. Fähigkeit zum Widerstand in der Niederlage.

160:4.8

6. Kultur – Bildung und Weisheit.

160:4.9

Selbst die physischen Probleme körperlicher Gesundheit und Leistungsfähig­keit werden am besten gelöst, wenn man sie vom religiösen Gesichtspunkt der Lehre unseres Meisters aus betrachtet: dass Körper und Verstand des Menschen die Wohnung des Geschenks der Götter sind, des Geistes Gottes, der zum Geist des Menschen wird. Dabei wird der Verstand des Menschen zum Vermittler zwischen materiellen Dingen und geistigen Realitäten.

160:4.10

Es bedarf der Intelligenz, um sich seinen Anteil an den wünschenswerten Dingen des Lebens zu sichern. Vollkommen irrig ist die Annahme, dass gewissenhaft ausgeführte tägliche Arbeit mit Sicherheit durch Reichtum belohnt werde. Abgesehen von gelegentlich und zufällig erworbenem Reichtum stellt man fest, dass die materiellen Belohnungen des irdischen Lebens in bestimmten gut organisierten Kanälen fließen; und nur diejenigen, die zu diesen Kanälen Zugang haben, können erwarten, für ihre irdischen Anstrengungen gut belohnt zu werden. Armut muss immer das Los aller Menschen bleiben, die in isolierten und individuellen Kanälen nach Reichtum suchen. Deshalb ist weise Planung die wesentliche Voraussetzung für weltlichen Wohlstand. Erfolg setzt nicht nur Hingabe an seine Arbeit voraus, sondern auch, dass man als Teil irgendeines Kanals materiellen Reichtums wirke. Wenn ihr unklug seid, könnt ihr ein ganzes Leben der Hingabe ohne materielle Belohnung an eure Generation verschenken; wenn ihr durch Zufall Nutznießer eines Überflusses an Reichtum werdet, könnt ihr im Luxus schwimmen, auch wenn ihr für eure Mitmenschen nichts Nützliches getan habt.

160:4.11

Begabung ist, was ihr erbt, Geschicklichkeit, was ihr erwerbt. Das Leben ist unwirklich für jemanden, der es nicht versteht, irgendetwas gut und fachmännisch auszuführen. Geschicklichkeit ist eine der wahren Quellen der Befriedigung im Leben. Begabung schließt auch die Gabe des Vorausschauens, der weit blickenden Vision ein. Lasst euch nicht täuschen durch die verlockenden Belohnungen für unredliche Unternehmungen; seid willens, hart zu arbeiten für die späteren Entgelte, die ehrlicher Anstrengung innewohnen. Ein weiser Mensch weiß zwischen Mitteln und Zwecken zu unterscheiden; sonst verfehlt übermäßiges Planen für die Zukunft manchmal das eigene hochgesteckte Ziel. Auf der Suche nach Freuden solltet ihr immer bestrebt sein, solche sowohl zu produzieren als auch zu konsumieren.

160:4.12

Übt euer Gedächtnis darin, die kraftspendenden und wertvollen Episoden eures Lebens in heiligem Gewahrsam zu halten, damit ihr sie euch nach Belieben zu eurer Freude und Erbauung in Erinnerung rufen könnt. Errichtet so in euch und für euch auf Vorrat solche Galerien der Schönheit, Güte und künstlerischen Größe. Aber die edelsten aller Erinnerungen sind die im Gedächtnis wohlbewahrten großen Augenblicke einer wundervollen Freundschaft. Und all diese Erinnerungsschätze verströmen ihre kostbarsten und erhebendsten Einflüsse im befreienden Kontakt mit der geistigen Anbetung.

160:4.13

Aber das Leben wird zur Bürde, wenn ihr nicht lernt, Misserfolge würdevoll hinzunehmen. Es gibt eine Kunst der Niederlage, die edle Seelen immer erwerben; ihr müsst lernen, fröhlich zu verlieren; ihr müsst ohne Furcht vor Enttäuschungen sein. Zögert nie, einen Misserfolg einzugestehen. Versucht nicht, ihn hinter trügerischem Lächeln und strahlendem Optimismus zu verbergen. Es klingt gut, stets zu behaupten, man sei erfolgreich, aber das Endresultat ist verheerend. Eine solche Taktik führt geradewegs zur Erschaffung einer unwirklichen Welt und zum unvermeidlichen Zusammenbruch in endgültiger Ernüchterung.

160:4.14

Erfolg kann Mut erzeugen und das Vertrauen stärken, aber Weisheit gewinnt man nur durch die Erfahrungen bei der Anpassung an die Resultate seiner Misserfolge. Menschen, die der Realität optimistische Illusionen vorziehen, können nie weise werden. Nur jene, die den Tatsachen ins Auge sehen und sie mit ihren Idealen abstimmen, können Weisheit erlangen. Die Weisheit umfasst sowohl die Tatsache als auch das Ideal und rettet daher ihre Anhänger vor den beiden unfruchtbaren Extremen der Philosophie – dem Menschen, dessen Idealismus die Tatsachen ausschließt, und dem Materialisten, dem jede geistige Sicht abgeht. Jene schüchternen Seelen, die den Lebenskampf nur dank ständiger falscher Erfolgsillusionen bestehen können, sind dazu verurteilt, Misserfolge zu erleiden und Niederlagen einzustecken, wenn sie endlich aus der Traumwelt ihrer eigenen Imagination aufwachen.

160:4.15

Und gerade wenn es darum geht, sich mit einem Misserfolg abzufinden und einer Niederlage anzupassen, übt die weitreichende Vision einer Religion ihren höchsten Einfluss aus. Misserfolg ist nur eine erzieherische Episode – ein kulturelles Experiment zur Erlangung von Weisheit – in der Erfahrung des nach Gott suchenden Menschen, der sich auf das ewige Abenteuer der Erforschung eines Universums eingelassen hat. Für solche Menschen ist eine Niederlage lediglich ein neues Werkzeug, um höhere Ebenen der Universums-Realität zu erreichen.

160:4.16

Der Werdegang eines Gott suchenden Menschen kann sich im Lichte der Ewigkeit als großer Erfolg herausstellen – sollte auch das ganze Unternehmen seines irdischen Lebens als überwältigender Fehlschlag erscheinen – vorausgesetzt, dass jeder Misserfolg seines Lebens die Förderung von Weisheit und geistigem Vollbringen bewirkte. Macht nicht den Fehler, Wissen, Kultur und Weisheit miteinander zu verwechseln. Sie sind zwar im Leben miteinander verknüpft, aber sie repräsentieren voneinander weit abweichende geistige Werte; Weisheit überragt stets das Wissen und gereicht der Kultur immer zum Ruhm.


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