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Abwarten und lehren am Seeufer

6. Der Geistesgestörte von Kheresa

151:6.1

Während der größte Teil des nahen östlichen Seeufers sanft zum dahinter liegenden Hochland anstieg, erhob sich hier ein steiler Berghang, der stellenweise senkrecht in den See abfiel. Auf den nahen Felshang weisend, sagte Jesus: „Lasst uns auf diesen Berg steigen, um dort zu frühstücken und uns unter den schützenden Felsen auszuruhen und zu unterhalten.“

151:6.2

Der ganze Hang war voller Höhlen, die aus dem Fels gehauen worden waren. Viele dieser Felsnischen waren alte Gräber. Etwa auf halber Höhe befand sich an einer schmalen, verhältnismäßig ebenen Stelle der Friedhof des kleinen Dorfes Kheresa. Als Jesus und seine Gefährten an diesem Gräberort vorbeikamen, stürzte ein Geistesgestörter, der in diesen Felshöhlen hauste, auf sie zu. Man kannte diesen Wahnsinnigen in der Gegend gut, denn er war früher gefesselt und angekettet in eine der Felsgrotten verbannt worden. Seit langem hatte er seine Fesseln gesprengt und irrte nun, wie es ihm gefiel, zwischen den Gräbern und verlassenen Totengrüften umher.

151:6.3

Dieser Mann hieß Amos und litt an einer periodischen Form von Geisteskrankheit. Es gab aber auch recht lange Zeiten, in denen er sich bekleidete und sich unter seinen Mitbürgern recht gut aufführte. Während eines dieser klaren Intervalle war er nach Bethsaida hinübergegangen, hatte dort Jesus und die Apostel predigen gehört und halbherzig an das Evangelium des Königreichs zu glauben begonnen. Aber bald stellte sich wieder eine stürmische Phase seines Leidens ein, und er floh zu den Gräbern, wo er wehklagte und laut schrie und durch sein Benehmen alle, die ihm begegneten, in Schre­cken versetzte.

151:6.4

Als Amos Jesus erkannte, fiel er zu seinen Füßen nieder und rief aus: „Ich kenne dich, Jesus, aber ich bin von vielen Dämonen besessen, und ich flehe dich an, mich nicht zu quälen.“ Dieser Mann glaubte wirklich, seine periodische Geistesgestörtheit sei der Tatsache zuzuschreiben, dass in solchen Zeiten böse oder unreine Geister in ihn fuhren und seinen Verstand und Körper beherrschten. Sein Leiden war größtenteils emotionaler Art – sein Hirn war nicht so stark erkrankt.

151:6.5

Jesus sah auf den Mann herab, der sich zu seinen Füßen wie ein Tier duckte, beugte sich zu ihm, nahm ihn bei der Hand, half ihm auf die Beine und sagte zu ihm: „Amos, du bist von keinem bösen Geist besessen; du hast bereits die gute Nachricht gehört, dass du ein Sohn Gottes bist. Ich befehle dir, aus diesem Zustand herauszukommen.“ Als Amos Jesus diese Worte sprechen hörte, ging in seinem Denken eine derartige Verwandlung vor, dass er augenblicklich seinen klaren Verstand und seine normale Gefühlskontrolle wiedererlangte. Mittlerweile hatte sich eine beträchtliche Menschenmenge aus dem nahen Dorf eingefunden, und diese Leute, vermehrt um die Schweinehirten vom darüber gelegenen Hochland, staunten beim Anblick des Irren, der bei Jesus und seinen Jüngern saß und sich mit ihnen bei klarem Verstand frei unterhielt.

151:6.6

Während die Schweinehirten ins Dorf stürzten, um die Nachricht von der Zähmung des Geistesgestörten zu verbreiten, griffen die Hunde eine kleine, unbehütete Herde von etwa dreißig Schweinen an und trieben die meisten davon über den Abgrund ins Meer. Und diese zufällige Begebenheit, verknüpft mit Jesu Gegenwart und der angeblich wunderbaren Heilung des Irren, gab den Anlass zur Entstehung der Legende, Jesus habe Amos geheilt, indem er eine Legion von Dämonen aus ihm ausgetrieben habe, worauf diese in eine Herde von Schweinen gefahren seien, die sich daraufhin kopfüber in ihr Verderben ins Meer hinabgestürzt hätten. Noch bevor der Tag vorüber war, hatten die Schweinehirten diese Version überall verkündet, und das ganze Dorf glaubte daran. Ganz gewiss glaubte auch Amos diese Geschichte; denn kurz nachdem sich sein gestörter Geist beruhigt hatte, sah er die Schweine über den Bergrand ins Leere stürzen, und er glaubte immer daran, dass sie eben jene bösen Geis­ter mit sich forttrugen, die ihn so lange gequält und heimgesucht hatten. Und dieser Umstand trug viel dazu bei, dass seine Heilung von Dauer war. Wahr ist auch, dass ebenfalls alle Apostel Jesu (Thomas ausgenommen) glaubten, dass die Schweineepisode direkt mit Amos‘ Heilung verknüpft war.

151:6.7

Jesus kam nicht in den Genuss der ersehnten Ruhe. Fast den ganzen Tag über wurde er von Leuten bedrängt, die auf die Kunde von der Heilung des Amos herbeigeeilt waren und von der Geschichte angezogen wurden, die Dämonen seien aus dem Irren in die Schweineherde gefahren. Und so wurden Jesus und seine Freunde nach nur einer Nacht der Ruhe am frühen Dienstagmorgen durch eine Abordnung der heidnischen Schweinezüchter aufgeweckt, die kamen, um ihn dringend zu bewegen, sich aus ihrer Mitte wegzubegeben. Ihr Wortführer sagte zu Petrus und Andreas: „Ihr Fischer von Galiläa, verlasst unser Gebiet und nehmt euren Propheten mit euch. Wir wissen, dass er ein heiliger Mann ist, aber die Götter unseres Landes kennen ihn nicht, und wir stehen in Gefahr, viele Schweine zu verlieren. Die Furcht vor euch hat sich auf uns gelegt, und wir bitten euch, von hier fortzugehen.“ Als Jesus sie so sprechen hörte, sagte er zu Andreas: „Kehren wir nach Hause zurück.“

151:6.8

Als sie sich zum Weggehen anschickten, drang Amos in Jesus, ihm zu erlauben, mit ihnen zurückzukehren, aber der Meister wollte nicht einwilligen. Jesus sagte zu Amos: „Vergiss nicht, dass du ein Sohn Gottes bist. Kehre zu deinen eigenen Leuten zurück und zeige ihnen, was für große Dinge Gott für dich getan hat.“ Und Amos ging überall verkünden, Jesus habe eine Legion Teufel aus seiner verstörten Seele gejagt, und diese bösen Geister seien in eine Herde von Schweinen gefahren, welche sie sogleich ins Verderben getrieben hätten. Und er hielt nicht eher inne, als bis er alle Städte der Dekapolis besucht und überall verkündet hatte, was für große Dinge Jesus für ihn getan hatte.


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