An diesem Abend richteten die zwölf Apostel – die meisten von ihnen hatten dem Gespräch über den Charakter Gottes zugehört – viele Fragen über den Vater im Himmel an Jesus. Des Meisters Antworten auf diese Fragen können am besten durch folgende Zusammenfassung in moderner Ausdrucksweise wiedergegeben werden:
Jesus tadelte die Zwölf gelinde, als er im Wesentlichen sagte: Kennt ihr die Überlieferungen Israels vom Wachstum der Jahve-Idee nicht, und habt ihr nie von den Aussagen der Schriften über die Lehre von Gott gehört? Und dann ging der Meister dazu über, die Apostel über die Evolution der Vorstellung von der Gottheit im Laufe der Entwicklung des jüdischen Volkes ins Bild zu setzen. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die folgenden Phasen des Wachstums der Gottesidee:
1. Jahve – der Gott der Sinaistämme. Dies war die ursprüngliche Vorstellung von Gottheit, die Moses auf die höhere Ebene von Gott, dem Herrn von Israel, emporhob. Der Vater im Himmel nimmt unfehlbar jede aufrichtige Anbetung seiner Erdenkinder an, ungeachtet dessen, wie primitiv ihre Vorstellung von Gottheit sein mag oder unter welchem Namen sie seine göttliche Natur symbolisieren.
2. Der Allerhöchste. Diese Vorstellung vom Vater im Himmel wurde Abraham von Melchisedek verkündet, und von Salem aus trugen sie jene, die in der Folge an diese vergrößerte und erweiterte Idee der Gottheit glaubten, in die Ferne. Abraham und sein Bruder verließen Ur wegen der Einführung der Sonnenverehrung, und sie wurden gläubige Anhänger der melchisedekschen Lehre von El Elyon – dem Allerhöchsten Gott. Sie besaßen eine gemischte Gottesvorstellung, die aus einer Verschmelzung ihrer älteren mesopotamischen Ideen und der Doktrin des Allerhöchsten bestand.
3. El Shaddai. In diesen frühen Zeiten verehrten viele Hebräer El Shaddai, die ägyptische Vorstellung vom Himmelsgott, von dem sie während ihrer Gefangenschaft im Lande des Nils Kenntnis erhalten hatten. Lange nach der Zeit Melchisedeks verschmolzen alle diese drei Gottesvorstellungen und bildeten die Doktrin von der Schöpfergottheit, von Gott dem Herrn Israels.
4. Elohim. Seit den Zeiten Adams hat die Lehre der Paradies-Trinität überdauert. Erinnert ihr euch nicht, wie die Schriften mit der Erklärung beginnen, dass „am Anfang die Götter den Himmel und die Erde schufen“? Das zeigt, dass zur Zeit jener Niederschrift die Trinitätsvorstellung von drei Göttern in einem ihren Platz in der Religion unserer Vorfahren gefunden hatte.
5. Der höchste Jahve. Zur Zeit des Jesaja hatten sich diese Gottesvorstellungen zur Idee eines Universalen Schöpfers erweitert, der gleichzeitig allmächtig und allerbarmend war. Und diese sich entwickelnde und erweiternde Gottesvorstellung ersetzte in der Religion unserer Väter praktisch alle früheren Ideen über die Gottheit.
6. Der Vater im Himmel. Und jetzt kennen wir Gott tatsächlich als unseren Vater im Himmel. Unsere Lehre bietet eine Religion, in welcher der Gläubige ein Sohn Gottes ist. Das ist die gute Nachricht des Evangeliums vom Königreich des Himmels. Zusammen mit dem Vater existieren der Sohn und der Geist, und die Offenbarung der Natur und helfenden Funktion dieser Paradies-Gottheiten wird sich während der endlosen Zeitalter der ewigen geistigen Progression der aufsteigenden Gottessöhne dauernd erweitern und erhellen. Was den individuellen geistigen Fortschritt betrifft, so anerkennt der innewohnende Geist jederzeit und in allen Zeitaltern die wahre Gottesverehrung jedes menschlichen Wesens als eine dem Vater im Himmel dargebrachte Huldigung.
Nie zuvor waren die Apostel so sehr aus der Fassung gebracht worden wie nach dem Anhören dieser Darstellung des Wachstums der Gottesidee in der Vorstellung der Juden früherer Generationen; sie waren zu verwirrt, um Fragen zu stellen. Sie saßen schweigend vor Jesus, und der Meister fuhr fort: „Ihr hättet diese Wahrheiten gekannt, wenn ihr die Schriften gelesen hättet. Habt ihr nicht in Samuel gelesen, wo gesagt wird: ‚Und der Zorn des Herrn entbrannte so mächtig gegen Israel, dass er David gegen sie aufbrachte und zu ihm sagte, er solle Israel und Juda zählen‘? Und daran war nichts Sonderbares, glaubten doch in den Tagen Samuels die Kinder Abrahams tatsächlich, dass Jahve das Gute wie das Böse erschuf. Aber als ein späterer Verfasser über diese Ereignisse berichtete, wagte er es als Folge der gewachsenen jüdischen Vorstellung von der Natur Gottes nicht, Jahve Böses zuzuschreiben; deshalb sagte er: ‚Und Satan erhob sich gegen Israel und provozierte David, Israel zu zählen.‘ Könnt ihr nicht erkennen, dass solche Schriftstellen klar zeigen, wie die Vorstellung von der Natur Gottes von einer Generation zur anderen unablässig wuchs?
Des Weiteren hättet ihr das wachsende Verständnis des göttlichen Gesetzes in vollkommener Übereinstimmung mit diesen sich erweiternden Vorstellungen von Göttlichkeit wahrnehmen sollen. Als die Kinder Israels in den Tagen vor der erweiterten Offenbarung Jahves aus Ägypten auszogen, besaßen sie zehn Gebote, die ihnen bis zu der Zeit, als sie vor dem Sinai lagerten, als Gesetz dienten. Und diese zehn Gebote lauteten:
1. Ihr sollt keinen anderen Gott anbeten, denn der Herr ist ein eifersüchtiger Gott.
2. Ihr sollt keine Götterfiguren gießen.
3. Ihr sollt nicht versäumen, das Fest der ungesäuerten Brote einzuhalten.
4. Alle männlichen Erstgeborenen von Mensch oder Vieh gehören mir, spricht der Herr.
5. Sechs Tage sollt ihr arbeiten, aber am siebenten sollt ihr ruhen.
6. Unterlasst es nicht, das Fest der ersten Früchte und das Fest der Einsammlung am Jahresende zu feiern.
7. Ihr sollt kein Opferblut mit gesäuertem Brot darbringen.
8. Am Passahfest sollt ihr mit dem Opfern nicht aufhören, ehe es Morgen ist.
9. Ihr sollt die allerersten Früchte der Erde zum Hause des Herrn eures Gottes bringen.
10. Ihr sollt ein Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter sieden.
Und dann, inmitten des Donners und der Blitze am Sinai, gab Moses ihnen die neuen zehn Gebote, die, wie ihr mir alle beipflichten werdet, würdigere Äußerungen sind, um die sich erweiternden, auf Jahve bezüglichen Vorstellungen von der Gottheit zu begleiten. Und habt ihr bei der doppelten Aufzeichnung dieser Gebote in den Schriften nie bemerkt, dass im ersten Fall als Grund für die Einhaltung des Sabbats die Befreiung von Ägypten angegeben wird, während in einer späteren Abfassung die fortschreitenden religiösen Überzeugungen unserer Vorväter verlangten, dass dies ersetzt werde durch die Anerkennung der Schöpfungstatsache als Grund dafür, den Sabbat einzuhalten?
Und ferner mögt ihr euch daran erinnern, dass während der größeren geistigen Klarheit in den Tagen Jesajas diese zehn negativen Gebote wiederum in das große und bejahende Gesetz der Liebe umgeformt wurden, in die Aufforderung, Gott über alles zu lieben und euren Nächsten wie euch selber. Und auch ich erkläre euch, dass dieses allerhöchste Gebot der Liebe zu Gott und den Menschen die ganze Pflicht des Menschen darstellt.“
Nachdem er fertig gesprochen hatte, stellte keiner ihm eine Frage. Sie gingen, ein jeder zu seinem Schlaflager.