Der Sommer ging zu Ende und die Zeit des Versöhnungstages und des Laubhüttenfestes nahte. Jesus hatte eine Familienzusammenkunft in Kapernaum über den Sabbat und machte sich am nächsten Tag mit Johannes, dem Sohn des Zebedäus, auf den Weg nach Jerusalem. Sie gingen zum Osten des Sees und dann über Gerasa und weiter das Jordantal hinab. Während Johannes im Wandern mit seinem Gefährten plauderte, nahm er an Jesus eine große Veränderung wahr.
Jesus und Johannes übernachteten in Bethanien bei Lazarus und seinen Schwestern und gingen früh am nächsten Morgen nach Jerusalem. Sie, zumindest Johannes, verbrachten fast drei Wochen inner- und außerhalb der Stadt. An manchen Tagen ging Johannes allein nach Jerusalem hinein, während Jesus in den nahen Bergen umherwanderte und oft lange Stunden in geistiger Verbindung mit seinem Vater im Himmel stand.
Beide wohnten am Tag der Versöhnung den feierlichen Gottesdiensten bei. Die Zeremonien dieses größten aller Tage im jüdischen religiösen Ritual beeindruckten Johannes tief, aber Jesus blieb ein nachdenklicher und schweigsamer Zuschauer. Dem Menschensohn kam das Ganze erbärmlich und pathetisch vor. Er sah in allem eine Entstellung des Charakters und der Attribute seines Vaters im Himmel. Das Geschehen dieses Tages kam ihm vor wie eine Karikatur der Tatsachen göttlicher Gerechtigkeit und der Wahrheiten unendlicher Barmherzigkeit. Er brannte vor Verlangen, die echte Wahrheit über den liebenden Charakter seines Vaters und dessen erbarmungsvolle Leitung des Universums zu verkündigen, aber sein treuer Mentor warnte ihn, dass seine Stunde noch nicht gekommen sei. An jenem Abend aber ließ Jesus in Bethanien viele Bemerkungen fallen, die Johannes sehr beunruhigten; er verstand die wahre Bedeutung dessen nie ganz, was Jesus an jenem Abend in ihrem Beisein äußerte.
Jesus hatte die Absicht, während der ganzen Woche des Laubhüttenfestes mit Johannes zusammenzubleiben. Das waren die alljährlichen Feiertage für ganz Palästina, es war die jüdische Ferienzeit. Obwohl Jesus an den Vergnügungen des Anlasses nicht teilnahm, war es offensichtlich, dass der Anblick der Jungen und Alten, die sich unbeschwerter Fröhlichkeit hingaben, ihn mit Freude und Zufriedenheit erfüllte.
In der Mitte der Feierwoche und ehe die Festlichkeiten zu Ende waren, verabschiedete sich Jesus von Johannes. Er sagte, er wünsche, sich in die Berge zurückzuziehen, wo er besser mit seinem Paradies-Vater in Verbindung treten könne. Johannes hätte ihn gerne begleitet, aber Jesus bestand darauf, dass er für die Dauer der Festlichkeiten bleiben solle, und sagte: „Es wird nicht von dir verlangt, die Last des Menschensohnes zu tragen; nur der Nachtwächter muss wachen, während die Stadt friedlich schläft.“ Jesus kehrte nicht nach Jerusalem zurück. Nachdem er eine Woche einsam in den Bergen bei Bethanien zugebracht hatte, machte er sich nach Kapernaum auf. Auf dem Heimweg hielt er sich einen Tag und eine Nacht lang allein an den Hängen des Berges Gilboa nahe der Stelle auf, wo König Saul sich das Leben genommen hatte. Als er in Kapernaum eintraf, schien er heiterer als beim Abschied von Johannes in Jerusalem.
Am nächsten Morgen ging Jesus zur Truhe, die seine persönliche Habe enthielt und in Zebedäus‘ Werkstatt zurückgeblieben war, legte seine Schürze an und erschien zur Arbeit mit den Worten: „Ich habe zu arbeiten, während ich auf meine Stunde warte.“ Und an der Seite seines Bruders Jakobus arbeitete er mehrere Monate lang in der Bootswerkstatt bis zum Januar des folgenden Jahres. Nach dieser Arbeitszeit mit Jesus gab Jakobus seinen Glauben an Jesu Sendung nie mehr wirklich und gänzlich auf, was für Zweifel auch immer in ihm aufstiegen und sein Verständnis des Lebenswerks des Menschensohnes umwölkten.
Während dieser letzten Zeitspanne in der Bootswerkstatt arbeitete Jesus meistens an der Innenausstattung einiger größerer Boote. Er übte sein Handwerk mit großer Sorgfalt aus und schien die Befriedigung menschlichen Gelingens zu empfinden, wenn er eine löbliche Arbeit zu Ende gebracht hatte. Obwohl er wenig Zeit an Kleinigkeiten verschwendete, war er ein sehr gewissenhafter Handwerker, wenn es um das Wesentliche irgendeiner gegebenen Aufgabe ging.
Im Laufe der Zeit kam in Kapernaum ein Gerücht von einem gewissen Johannes auf, der predigte und Bußfertige im Jordan taufte. Und also predigte Johannes: „Das Himmelreich ist nahe; bereut und lasset euch taufen.“ Jesus hörte sich die Berichte an, derweilen Johannes von der Jerusalem zunächst gelegenen Furt des Flusses langsam das Jordantal hinaufzog. Aber er arbeitete an den Booten weiter, bis Johannes auf seinem Weg flussaufwärts im Januar des nächsten Jahres (26 n. Chr.) einen Ort bei Pella erreicht hatte. Da legte er mit den Worten „Meine Stunde ist gekommen“ seine Werkzeuge nieder und erschien bald darauf bei Johannes, um sich taufen zu lassen.
Aber eine gewaltige Veränderung war mit Jesus vorgegangen. Von all den Menschen, die er zu der Zeit, als er kreuz und quer durch das Land zog, mit seinen Besuchen und seiner Zuwendung erfreut hatte, erkannten später nur wenige in dem öffentlichen Lehrer dieselbe Person, die sie in früheren Jahren als Privatmensch gekannt und geliebt hatten. Es gab allerdings einen Grund dafür, weshalb die einst derart Begünstigten ihn in seiner späteren Rolle als öffentlicher Lehrer voller Autorität nicht wieder erkannten: Über lange Jahre war die Umwandlung von Verstand und Geist in ihm fortgeschritten und kam während des denkwürdigen Aufenthaltes auf dem Berg Hermon zum Abschluss.
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