Nach dem Verlassen Athens begaben sich die Reisenden über die Troas nach Ephesus, der Hauptstadt der römischen Provinz Asien. Sie suchten häufig den berühmten, etwa vier Kilometer außerhalb der Stadt gelegenen Artemis-Tempel auf. Artemis war die bekannteste Göttin von ganz Kleinasien; in ihr lebte die frühere Muttergottheit der anatolischen Vergangenheit weiter. Ihr grobes Standbild, das, wie es hieß, vom Himmel gefallen war, stand in dem ihrer Anbetung geweihten Tempel. Ganid war im Respekt vor Bildnissen als den Symbolen von Göttlichkeit erzogen worden, und nicht alles davon war ausgemerzt. Er fand, er tue gut daran, einen kleinen Silberschrein zu Ehren der kleinasiatischen Fruchtbarkeitsgöttin zu erstehen. An diesem Abend sprachen sie in aller Ausführlichkeit über die Verehrung von Gegenständen, die Menschenhand geschaffen hatte.
Am dritten Tag ihres Aufenthaltes gingen sie flussabwärts, um die Ausschlammungsarbeiten am Hafeneingang zu beobachten. Um die Mittagsstunde sprachen sie mit einem jungen Phönizier, der vor Heimweh krank und völlig niedergeschlagen war; vor allem aber war er auf einen gewissen jungen Mann neidisch, der über seinen Kopf hinweg befördert worden war. Jesus sprach ihm Mut zu und zitierte das alte hebräische Sprichwort: „Es sind die Gaben eines Mannes, die ihm Raum schaffen und ihn in die Nähe großer Männer bringen.“
Von allen großen Städten, die sie während dieser Mittelmeerreise besuchten, richteten sie hier am wenigsten von dem aus, was für die spätere Arbeit der christlichen Missionare von Wert gewesen wäre. Das Christentum verdankte seinen Anfang in Ephesus weitgehend dem Einsatz des Paulus, der hier mehr als zwei Jahre lang lebte, wobei er seinen Unterhalt mit der Herstellung von Zelten verdiente und jeden Abend im größten Vorlesungsraum der Schule des Tyrannus über Religion und Philosophie sprach.
Es gab da einen aufgeschlossenen Denker, der mit dieser örtlichen Philosophieschule verbunden war, und Jesus führte einige fruchtbare Gespräche mit ihm. Im Verlaufe dieser Unterhaltungen hatte Jesus wiederholt das Wort „Seele“ gebraucht. Der gelehrte Grieche fragte ihn schließlich, was er unter „Seele“ verstehe, und Jesus antwortete:
„Die Seele ist jener Teil des Menschen, der das Selbst widerspiegelt, die Wahrheit erkennt und den Geist wahrnimmt und das menschliche Wesen für immer über die Ebene der Tierwelt hinaushebt. Die Selbstbewusstheit an und für sich ist nicht die Seele. Erst die sittliche Selbstbewusstheit ist die wahre menschliche Selbstverwirklichung und bildet die Grundlage der menschlichen Seele. Die Seele ist jener Teil des Menschen, der den potentiellen Überlebenswert der menschlichen Erfahrung darstellt. Die charakteristischen Merkmale der Seele sind: sittliche Entscheidung und geistige Vollbringung, die Fähigkeit, Gott zu kennen und der Antrieb, ihm zu gleichen. Die Seele des Menschen kann nicht getrennt von sittlichem Denken und geistiger Tätigkeit existieren. Eine stagnierende Seele ist eine sterbende Seele. Aber die Seele des Menschen ist etwas anderes als der göttliche Geist, welcher den Verstand bewohnt. Dieser göttliche Geist langt im Augenblick der ersten sittlichen Tätigkeit des menschlichen Verstandes an, und bei dieser Gelegenheit wird die Seele geboren.
Die Rettung oder der Verlust einer Seele steht damit im Zusammenhang, ob das sittliche Bewusstsein durch einen ewigen Bund mit dem ihm verliehenen unsterblichen Geist den Überlebensstatus erreicht oder nicht. Die Errettung ist die Vergeistigung des sich selbst verwirklichenden sittlichen Bewusstseins, das dadurch Fortlebenswert erlangt. Alle Arten seelischer Konflikte beruhen auf mangelnder Harmonie zwischen der sittlichen oder geistigen Selbstbewusstheit und der rein intellektuellen Selbstbewusstheit.
Die gereifte, veredelte und vergeistigte menschliche Seele nähert sich insofern dem himmlischen Zustand, als sie beinahe eine Wesenheit ist, die zwischen dem Materiellen und dem Geistigen liegt, zwischen dem materiellen Selbst und dem göttlichen Geist. Es ist schwierig, die sich in Entwicklung befindliche Seele eines menschlichen Wesens zu beschreiben, und noch schwieriger, sie zu beweisen, da man sie weder mit den Methoden der materiellen Forschung noch mit denen des geistigen Nachweises entdecken kann. Weder materielle Wissenschaft noch rein geistige Untersuchung können ihre Existenz beweisen. Ungeachtet des Unvermögens der materiellen Wissenschaft und der geistigen Kriterien, die Existenz der menschlichen Seele zu entdecken, weiß doch jeder Sterbliche mit sittlichem Bewusstsein um die Existenz seiner Seele als einer wirklichen und tatsächlichen persönlichen Erfahrung.“