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Die Realität religiöser Erfahrung

6. Philosophische Koordination

103:6.1

Die Theologie ist das Studium der Aktionen und Reaktionen des menschlichen Geistes; sie kann nie eine Wissenschaft werden, da sie immer mehr oder weniger in ihrem persönlichen Ausdruck mit Psychologie und in ihrer systematischen Darstellung mit Philosophie kombiniert werden muss. Theologie ist immer das Studium eurer eigenen Religion; das Studium der Religion eines anderen ist Psychologie.

103:6.2

Wenn der Mensch von außen her an das Studium und die Beobachtung seines Universums geht, ruft er die verschiedenen physischen Wissenschaften ins Dasein; wenn er sich an die Erforschung seiner selbst und des Universums von innen her macht, lässt er Theologie und Metaphysik entstehen. Die spätere Kunst der Philosophie entwickelt sich im Bemühen um eine Harmonisierung der vielen Ungereimtheiten, die sich am Anfang zwangsläufig zwischen den Erkenntnissen und Lehren dieser beiden diametral entgegengesetzten Herangehensweisen an das Universum von Dingen und Wesen einstellen.

103:6.3

Die Religion betrifft nur den geistigen Gesichtspunkt, das Gewahren der Inwendigkeit der menschlichen Erfahrung. Die geistige Natur des Menschen verschafft ihm die Möglichkeit, das Universum von außen nach innen zu kehren. Es ist deshalb wahr, dass, ausschließlich von der Inwendigkeit persönlicher Erfahrung her betrachtet, die ganze Schöpfung ihrer Natur nach geistig zu sein scheint.

103:6.4

Wenn der Mensch dank seiner Ausstattung mit materiellen physischen Sin­nen und der damit gekoppelten intelligenten Wahrnehmung das Universum analytisch untersucht, scheint der Kosmos mechanisch und energetisch-materiell zu sein. Diese Technik, die Realität zu studieren, besteht darin, das Univer­sum von innen nach außen zu kehren.

103:6.5

Ein logisches und zusammenhängendes philosophisches Universumskonzept kann weder auf den Grundvoraussetzungen des Materialismus noch auf denjenigen des Spiritualismus aufgebaut werden, weil jedes dieser Denksysteme, wenn universell angewendet, zwangsläufig einen verzerrten Kosmos erblickt: Der Material­ismus steht mit einem von innen nach außen gewendeten Universum in Kontakt, während der Spiritualismus die Natur eines von außen nach innen gewendeten Universums wahrnimmt. Deshalb können weder Wissenschaft noch Religion, in sich und von sich aus, allein, ohne Anleitung durch menschliche Philosophie und ohne Erleuchtung durch göttliche Offenbarung, je hoffen, zu einem angemessenen Verständnis universaler Wahrheiten und Beziehungen zu gelangen.

103:6.6

Immer muss der innere Geist des Menschen für seinen Ausdruck und seine Selbstverwirklichung vom Mechanismus und von der Technik des Verstandes abhängen. Ebenso muss sich die menschliche Erfahrung der äußeren materiellen Realität auf das verstehende Bewusstsein der erfahrenden Person gründen. Deshalb steht sowohl geistige wie materielle, innere wie äußere menschliche Erfahrung stets mit der Verstandesfunktion in Beziehung und wird, um ins Bewusstsein zu treten, durch die Verstandestätigkeit bedingt. Der Mensch erfährt die Materie in seinem Verstand; er erfährt die geistige Realität in der Seele, wird sich aber dieser Erfahrung durch seinen Verstand bewusst. Der Intellekt ist der stets gegenwärtige Harmonisierer, der die Totalität der menschlichen Erfahrung bedingt und wertet. Sowohl die dem Energiebereich angehörenden Dinge als auch die geistigen Werte werden bei ihrer Interpretation durch die mentalen Werkzeuge des Bewusstseins in bestimmter Weise gefärbt.

103:6.7

Eure Schwierigkeit, zu einer harmonischeren Koordination von Wissen­schaft und Religion zu finden, kommt von eurer völligen Unkenntnis des Zwischen­reichs der morontiellen Welt von Dingen und Wesen. Das Lokalu­niversum besteht aus drei Stufen oder Stadien oder Erscheinungsformen der Realität: aus Materie, Morontia und Geist. Der morontielle Blickwinkel bringt alle Diskrepanzen zwischen den Befunden der physischen Wissenschaften und dem Funktionieren des Geistes der Religion zum Verschwinden. Vernunft ist die Technik der Wissenschaften, um zu verstehen; Glaube ist die Technik der Religion, um zu erkennen; Mota ist die Technik der morontiellen Ebene. Die Mota ist eine übermaterielle Sensibilität auf die Realität, die damit beginnt, unvollständiges Wachstum zu kompensieren, und deren Substanz Wissen-Vernunft und deren Wesen Glaube-Erkenntnis ist. Die Mota ist eine überphilosophische Aussöhnung divergierender Wahrnehmungen der Realität, zu der materielle Persönlichkeiten nicht gelangen können; zum Teil gründet sie auf der Erfahrung, nach dem materiellen irdischen Leben fortgelebt zu haben. Aber viele Sterbliche haben die Wünschbarkeit einer Methode erkannt, um die weit auseinanderklaffenden Bereiche von Wissenschaft und Religion miteinander zu versöhnen; und Metaphysik ist das Resultat des fruchtlosen menschlichen Versuchs, diesen sehr wohl erkannten Abgrund zu überbrücken. Aber menschliche Metaphysik hat sich mehr als verwirrend denn als erhellend erwiesen. Die Metaphysik steht für das gut gemeinte, aber aussichtslose menschliche Bemühen um eine Kompensation für die abwesende morontielle Mota.

103:6.8

Metaphysik hat sich als ein Fehlschlag herausgestellt, andererseits vermag der Mensch die Mota nicht wahrzunehmen. Offenbarung ist die einzige Technik, die in einer materiellen Welt für die Abwesenheit der Wahrheitssensibilität der Mota aufkommen kann. Mit Autorität bringt Offenbarung auf einer evolutionären Sphäre Klarheit in die Verworrenheit der vom Verstand entwickelten Metaphysik.

103:6.9

Wissenschaft ist der Versuch des Menschen, sein physisches Umfeld, die Welt aus Energie-Materie, zu studieren; Religion ist die Erfahrung des Men­schen mit dem Kosmos geistiger Werte; Philosophie entwickelte sich aus dem Bemühen des menschlichen Verstandes, die Erkenntnisse dieser weit auseinan­der liegenden Vorstellungswelten in einer Art vernünftiger und geeinter Haltung gegenüber dem Kosmos zu organisieren und korrelieren. Die durch Offenbarung geklärte Philosophie funktioniert auf zufriedenstellende Weise in Abwesenheit der Mota und angesichts des Versagens und Scheiterns des menschlichen Verstandesersatzes für die Mota – der Metaphysik.

103:6.10

Der frühe Mensch machte keinen Unterschied zwischen der Energieebene und der Geistesebene. Die violette Rasse und ihre anditischen Nachfolger versuchten als erste, das Mathematische vom Willensmäßigen zu trennen. Immer mehr ist der zivilisierte Mensch in die Fußstapfen der frühesten Griechen und der Sumerer getreten, die zwischen Unbelebtem und Belebtem unterschieden. Und mit fortschreitender Zivilisation wird die Philosophie immer breiter werdende Klüfte zwischen geistigem und energetischem Konzept zu überbrücken haben. Aber in der Zeit des Raums sind diese Divergenzen eins im Supremen.

103:6.11

Wissenschaft muss sich immer auf die Vernunft stützen, obwohl Einbildungs­kraft und Spekulation ihre Grenzen erweitern helfen. Religion wird immer vom Glauben abhängig sein, obwohl die Vernunft auf diesen einen stabilisierenden Einfluss ausübt und eine nützliche Gehilfin ist. Und immer hat es irreführende Interpretationen der Phänomene der natürlichen und der geistigen Welten gegeben, die man fälschlicherweise Wissenschaft und Religion genannt hat, und es wird sie immer geben.

103:6.12

Ausgehend von seinem unvollständigen Erfassen der Wissenschaft, seiner schwachen Abstützung auf die Religion und seinen missglückten metaphysischen Versuchen, hat der Mensch sich an die Konstruktion seiner philosophischen Formulierungen gemacht. Tatsächlich könnte der moderne Mensch eine achtbare und ansprechende Philosophie von sich und seinem Universum bauen, hinderte ihn daran nicht die Unterbrechung der über alles wichtigen und unerlässlichen metaphysischen Verbindung zwischen den Welten von Materie und Geist, das Unvermögen der Metaphysik, den morontiellen Abgrund zwischen Physischem und Geistigem zu überbrücken. Dem sterblichen Menschen fehlt die Vorstellung von morontieller Intelligenz und Materie; und um diesem vorstellungsmäßigen Mangel abzuhelfen, ist Offenbarung die einzige Technik, deren der Mensch dringend bedarf, um eine logische Philosophie des Universums aufzubauen und zu einem befriedigenden Verständnis seines sicheren und festen Platzes in ebendiesem Universum zu kommen.

103:6.13

Offenbarung ist die einzige Hoffnung des evolutionären Menschen, die morontielle Kluft zu überwinden. Ohne Hilfe der Mota können Glaube und Verstand kein logisches Universum konzipieren und konstruieren. Ohne die Schau der Mota kann der sterbliche Mensch in den Phänomenen der materiellen Welt keine Güte, Liebe und Wahrheit entdecken.

103:6.14

Wenn menschliche Philosophie stark der Welt der Materie zuneigt, wird sie rationalistisch oder naturalistisch. Wenn Philosophie sich vornehmlich der geistigen Ebene zuwendet, wird sie idealistisch oder gar mystisch. Wenn Philosophie das Unglück hat, sich auf Metaphysik abzustützen, wird sie ausnahmslos skeptisch, konfus. In den vergangenen Zeitaltern sind die allermeisten Erkenntnisse und intellektuellen Beurteilungen des Menschen einer dieser drei Verzerrungen der Wahrnehmung zum Opfer gefallen. Die Philosophie darf sich nicht anmaßen, die Realität in der linearen Art der Logik zu interpretieren; sie darf es nie unterlassen, mit der ellyptischen Symmetrie der Realität und mit der wesenhaften Krümmung aller Konzepte von Beziehungen zu rechnen.

103:6.15

Die höchste Philosophie, die der sterbliche Mensch erreichen kann, muss sich in logischer Weise abstützen auf die Vernunft der Wissenschaft, auf den Glauben der Religion und auf den durch Offenbarung gewährten Einblick in die Wahrheit. Durch eine solche Einheit kann der Mensch einigermaßen seine Unfähigkeit wettmachen, eine angemessene Metaphysik zu entwickeln, sowie sein Unvermögen, die morontielle Mota zu verstehen.


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