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Die Realität religiöser Erfahrung

5. Der Ursprung der Ideale

103:5.1

Im frühen evolutionären Verstand entsteht ein Gefühl für soziale Pflicht und sittliche Obliegenheiten, das hauptsächlich emotionaler Furcht entstammt. Der positivere Drang zu sozialem Dienst und altruistischer Idealismus entstammen direkt dem Impuls des dem menschlichen Verstand innewohnenden göttlichen Geistes.

103:5.2

Das Idee-Ideal, anderen Gutes zu tun – der Impuls, seinem Nächsten zuliebe seinem Ego etwas zu versagen – hält sich am Anfang in sehr engen Grenzen. Der primitive Mensch betrachtet als seine Nächsten nur die ihm sehr nahe Stehenden und freundlich Gesinnten; mit dem Fortschritt der religiösen Zivilisation erweitert sich die Vorstellung vom Nächsten und schließt den Klan, den Stamm und die Nation ein. Und dann dehnte Jesus ihren Gültigkeitsbereich auf die ganze Menschheit aus, dermaßen, dass wir sogar unsere Feinde lieben sollen. Und im Inneren jedes normalen Menschenwesens gibt es etwas, das ihm sagt, dass diese Lehre sittlich – richtig – ist. Selbst diejenigen, die diesem Ideal am wenigsten nachleben, lassen gelten, dass es theoretisch richtig ist.

103:5.3

Alle Menschen anerkennen die Sittlichkeit dieses universellen menschlichen Dranges nach Selbstlosigkeit und Altruismus. Der Humanist schreibt den Ursprung dieses Triebes dem natürlichen Arbeiten des materiellen Verstandes zu; der Gläubige erkennt richtiger, dass der wahrhaft selbstlose Elan des men­schlichen Verstandes eine Antwort auf die innere geistige Führung des Gedan­kenjustierers ist.

103:5.4

Aber die menschliche Interpretation dieser frühen Konflikte zwischen Ego-Willen und anders-als-eigensüchtigem Willen ist nicht immer zuverlässig. Nur eine schon recht gut geeinte Persönlichkeit kann Schiedsrichter sein im vielgestaltigen Widerstreit der Ego-Sehnsüchte mit dem knospenden sozialen Bewusstsein. Unser Selbst hat seine Rechte so gut wie das Selbst unseres Nächsten. Weder das eine noch das andere kann einen ausschließlichen Anspruch auf die Aufmerksamkeit oder den Dienst des Einzelnen erheben. Das Unvermögen, dieses Problem zu lösen, lässt den frühes­ten Typ menschlicher Schuldgefühle entstehen.

103:5.5

Menschliches Glück wird nur erreicht, wenn der Ego-Wunsch des Selbst und das altruistische Drängen des höheren Selbst (des göttlichen Geistes) durch den geeinten Willen der integrierenden und überwachenden Persönlichkeit miteinander koordiniert und versöhnt werden. Der Verstand des evolutionären Menschen sieht sich ständig mit dem verwickelten Problem konfrontiert, zu entscheiden im Streit zwischen der natürlichen Expansion emotionaler Impulse und dem sittlichen Wachstum selbstloser Regungen, die auf geistiger Schau gründen – auf echtem religiösem Nachdenken.

103:5.6

Der Versuch, dem eigenen Ich und der größtmöglichen Zahl anderer Ichs gleicherweise Wohltaten zu verschaffen, ist ein Problem, das in einem zeitlich-räumlichen Rahmen nicht immer zufriedenstellend gelöst werden kann. Das ewige Leben erlaubt, solche Antagonismen zu verarbeiten, aber in einem einzigen kurzen Menschenleben können sie unmöglich eine Lösung finden. Jesus spielte auf dieses Paradox an, als er sagte: „Wer immer sein Leben rettet, wird es verlieren, aber wer immer sein Leben um des Himmelreichs willen verliert, wird es finden.“

103:5.7

Die Verfolgung des Ideals – das Streben nach Gottähnlichkeit – ist eine ständige Anstrengung, vor dem Tode und danach. Das Leben nach dem Tode unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der irdischen Existenz. Alles Gute, das wir in diesem Leben tun, trägt direkt zu einer Bereicherung des künftigen Lebens bei. Wirkliche Religion fördert nicht sittliche Indolenz und geistige Trägheit, indem sie die leere Hoffnung unterhält, das Durchschreiten der Pforte des natürlichen Todes genüge, um mit allen Tugenden eines edlen Charakters beschenkt zu werden. Wahre Religion verringert keineswegs die menschlichen Bemühungen um Fortschritt während der irdischen Lebensfrist. Jeder Gewinn des Sterblichen trägt direkt zur Bereicherung der ersten Stadien der Fortlebenserfahrung als Unsterblicher bei.

103:5.8

Es ist für den Idealismus des Menschen todbringend, wenn man ihn lehrt, dass all seine altruistischen Regungen nichts anderes seien als die Weiterentwicklung seines natürlichen Herdeninstinkts. Hingegen fühlt er sich geadelt und mächtig angeregt, wenn er erfährt, dass dieses höhere Drängen seiner Seele von den geistigen Kräften ausgeht, die seinen sterblichen Verstand bewohnen.

103:5.9

Es trägt den Menschen aus sich und weit über sich hinaus, wenn ihm einmal voll zum Bewusstsein kommt, dass in ihm etwas lebt und kämpft, das ewig und göttlich ist. Und so kommt es, dass ein lebendiger Glaube an den übermenschlichen Ursprung unserer Ideale unsere Vorstellung, dass wir die Söhne Gottes sind, bestätigt und unsere altruistischen Überzeugungen, die Gefühle menschlicher Brüderlichkeit, wirklich werden lässt.

103:5.10

In seinem geistigen Bereich besitzt der Mensch tatsächlich einen freien Willen. Der sterbliche Mensch ist weder ein hilfloser Sklave der unnachgiebigen Souveränität eines allmächtigen Gottes noch das Opfer der hoffnungslosen Fatalität eines mechanistischen kosmischen Determinismus. Der Mensch ist im wahrhaftigsten Sinne der Architekt seiner eigenen ewigen Bestimmung.

103:5.11

Aber man kann den Menschen nicht durch Ausübung von Druck retten oder veredeln. Geistiges Wachstum kommt aus dem Inneren der sich entwickelnden Seele. Druck deformiert unter Umständen die Persönlichkeit, aber regt nie das Wachstum an. Auch erzieherischer Druck ist nur im negativen Sinne hilfreich, indem er zu einer Verhütung katastrophaler Erfahrungen beitragen kann. Geistiges Wachstum ist dann am stärksten, wenn ein Mindestmaß an allem äußeren Druck vorhanden ist. „Wo des Herrn Geist herrscht, da ist Freiheit.“ Der Mensch entwickelt sich dann am besten, wenn der Druck von Heim, Gemeinschaft, Kirche und Staat am geringsten ist. Aber das darf nicht so aufgefasst werden, als gäbe es in einer fortschrittlichen Gesellschaft keinen Platz für Heim, soziale Institutionen, Kirche und Staat.

103:5.12

Wenn ein Mitglied einer gesellschaftlichen religiösen Gruppe einmal den Anforderungen dieser Gruppe nachgekommen ist, sollte er ermutigt werden, sich im Religiösen völlig frei zu fühlen, seine eigene persönliche Interpretation der in den religiösen Glaubensvorstellungen und in den Tatsachen der religiösen Erfahrung enthaltenen Wahrheiten auszudrücken. Die Sicherheit einer religiösen Gruppe hängt von ihrer geistigen Einheit ab und nicht von einheitlicher theologischer Ausrichtung. Eine religiöse Gruppe sollte fähig sein, sich der Unabhängigkeit freien Denkens zu erfreuen, ohne dass ihre Mitglieder gleich zu „Freidenkern“ werden. Es besteht große Hoffnung für jede Kirche, die den lebendigen Gott anbetet, die Brüderlichkeit unter den Menschen bejaht und es wagt, von ihren Mitgliedern jeden kredohaften Druck fernzuhalten.


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