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Die Realität religiöser Erfahrung

1. Philosophie der Religion

103:1.1

Die Einheit religiöser Erfahrung einer sozialen oder rassischen Gruppe ist auf die identische Natur des dem Einzelnen innewohnenden Gottesfragmentes zurückzuführen. Es ist dieses Göttliche im Menschen, was sein selbstloses Interesse am Wohlergehen anderer Menschen entstehen lässt. Aber da die Persönlichkeit einmalig ist – keine zwei Sterbliche sind sich gleich – folgt daraus zwangsläufig, dass keine zwei menschlichen Wesen die Weisungen und Impulse des in ihrem Verstand wohnenden göttlichen Geistes gleich interpretieren werden. Eine Gruppe von Sterblichen kann eine geistige Einheit erfahren, aber nie zu philosophischer Uniformität gelangen. Und diese Verschiedenheit der Deutung religiösen Denkens und Erfahrens zeigt sich in der Tatsache, dass die Theologen und Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts über fünfhundert verschiedene Definitionen der Religion formuliert haben. In Wirklichkeit definiert jedes sterbliche Wesen die Religion im Lichte seiner eigenen erfahrungsmäßigen Interpretation der göttlichen Impulse, die von dem ihm innewohnenden Geist Gottes ausgehen, und deshalb muss eine solche Interpretation einmalig sein und völlig verschieden von der religiösen Philosophie aller anderen menschlichen Wesen.

103:1.2

Wenn ein Sterblicher mit der religiösen Philosophie eines anderen Sterblichen voll übereinstimmt, zeigt dieses Phänomen, dass diese beiden Wesen in den Dingen, auf die sich ihre gleichartige philosophische religiöse Interpretation bezieht, eine gleiche religiöse Erfahrung gehabt haben.

103:1.3

Zwar ist eure Religion eine Sache persönlicher Erfahrung, aber es ist äußerst wichtig, dass ihr mit einer großen Zahl anderer religiöser Erfahrungen (den verschiedenen Interpretationen anderer Sterblicher) bekannt werdet, um euer religiöses Leben davor zu bewahren, egozentrisch zu werden – eng, eigensüchtig und asozial.

103:1.4

Der Rationalismus geht in seiner Annahme fehl, die Religion sei zu Beginn ein primitiver Glaube an etwas, dem sich dann die Verfolgung von Werten anschließe. Religion ist zuallererst eine Verfolgung von Werten, und erst danach formuliert sie ein System interpretierender Glaubensvorstellungen. Es fällt den Menschen viel leichter, über religiöse Werte – Ziele – einer Meinung zu sein als über Glaubensvorstellungen – Interpretationen. Und das erklärt, weshalb Religion sich in Werten und Zielen einig sein kann, während sie das verwirrende Schauspiel bietet, an Hunderte von sich bekämpfenden Vorstellungen – Kredos – zu glauben. Und das erklärt auch, weshalb eine gegebene Person an ihrer religiösen Erfahrung festhalten kann, obwohl sie viele ihrer religiösen Über­zeugungen aufgibt oder ändert. Die Religion hält sich trotz revolutionärer Wandlungen der religiösen Vorstellungen. Theologie erzeugt keine Religion; es ist die Religion, die die theologische Philosophie hervorbringt.

103:1.5

Dass gläubige Menschen an so viel Falsches geglaubt haben, mindert die Religion nicht herab, weil Religion auf der Anerkennung von Werten beruht und ihre Gültigkeit aus dem Glauben persönlicher religiöser Erfahrung bezieht. Religion ruht also auf dem Fundament von Erfahrung und religiösem Denken; Theologie, die Philosophie der Religion, ist ein ehrlicher Versuch, diese Erfahrung zu deuten. Solch interpretierende Glaubensvorstellungen können wahr oder falsch oder eine Mischung aus Wahrheit und Irrtum sein.

103:1.6

Das Innewerden, geistige Werte anzuerkennen, ist eine Erfahrung, die oberhalb der ideellen Ebene liegt. Es gibt in keiner einzigen menschlichen Sprache ein Wort, das gebraucht werden könnte zur Bezeichnung dieses „Sinnes“, „Gefühls“, dieser „Intuition“ oder „Erfahrung“, für die wir den Ausdruck Gottes­bewusstsein gewählt haben. Der Geist Gottes, der im Menschen wohnt, ist nicht persönlich – der Justierer ist vorpersönlich – aber dieser Mentor stellt einen Wert dar, verströmt einen Duft von Göttlichkeit, der in einem höchsten und unendlichen Sinne persönlich ist. Wenn Gott nicht zumindest persönlich wäre, könnte er nicht bewusst sein, und wäre er nicht bewusst, dann wäre er weniger als menschlich.


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