◄ 87:0
Schrift 87
87:2 ►

Die Phantomkulte

1. Furcht vor den Phantomen

87:1.1

Man fürchtete den Tod, weil er bedeutete, dass sich wieder ein Phantom aus seinem physischen Körper befreit hatte. Die Alten taten, was sie nur konnten, um dem Tod vorzubeugen, um der Schwierigkeit, mit einem neuen Phantom ringen zu müssen, aus dem Wege zu gehen. Sie waren immer ängstlich bemüht, das Phantom dazu zu bewegen, die Sterbeszene zu verlassen und sich auf die Reise ins Totenland zu begeben. Am meisten fürchtete man sich vor dem Phantom während der vermuteten Übergangsphase zwischen seiner Befreiung zum Zeitpunkt des Todes und seiner späteren Abreise in die Heimat der Phantome, dem einer verschwommenen und primitiven Vorstellung entsprungenen Pseudohimmel.

87:1.2

Obwohl der Wilde die Phantome mit übernatürlichen Kräften ausstattete, billigte er ihnen kaum übernatürliche Intelligenz zu. Viele Tricks und Listen wurden angewandt, um die Phantome hereinzulegen und zu täuschen; der zivilisierte Mensch setzt immer noch großes Vertrauen in die Hoffnung, dass eine Zurschaustellung von Frömmigkeit irgendwie selbst eine allwissende Gottheit täuschen werde.

87:1.3

Die Primitiven fürchteten die Krankheit, weil sie beobachteten, dass sie oft ein Vorbote des Todes war. Wenn der Medizinmann des Stammes einen Leiden­den nicht zu heilen vermochte, wurde der Kranke gewöhnlich aus der Fami­lien­hütte entfernt und in eine kleinere gebracht oder im Freien gelassen, um allein sterben zu können. Ein Haus, in dem der Tod eingekehrt war, wurde gewöhnlich zerstört; wenn nicht, wurde es immer gemieden, und diese Furcht hinderte den frühen Menschen daran, feste Behausungen zu errichten. Sie wirkte auch der Gründung von bleibenden Dörfern und Städten entgegen.

87:1.4

Die Wilden blieben die ganze Nacht auf und redeten miteinander, wenn ein Mitglied des Klans starb; sie befürchteten, selber zu sterben, wenn sie in der Nähe eines Leichnams einschliefen. Von einem Leichnam angesteckt zu werden, verlieh der Furcht vor den Toten Wirklichkeit, und alle Völker haben zu irgendeinem Zeitpunkt komplizierte Reinigungszeremonien angewandt, um jemanden nach dem Kontakt mit einem Toten zu reinigen. Die Alten glaubten, dass für einen Leichnam Licht beschafft werden müsse; ein toter Körper durfte nie im Dunkeln liegen bleiben. Im zwanzigsten Jahrhundert lässt man in den Totenzimmern immer noch Kerzen brennen, und die Menschen halten immer noch Totenwache. Der so genannte zivilisierte Mensch hat die Furcht vor Leichen kaum vollständig aus seiner Lebensphilosophie verbannt.

87:1.5

Aber bei all ihrer Furcht versuchten die Menschen dennoch, die Phantome in die Irre zu führen. Sofern die Hütte des Toten nicht zerstört wurde, schaffte man den Leichnam durch ein Loch in der Wand weg, nie durch den Eingang. Diese Maßnahme sollte das Phantom verwirren, sein Verweilen verhindern und eine Sicherung gegen seine Rückkehr sein. Auch kehrten die Trauernden aus Angst, das Phantom folge ihnen nach, auf einem anderen Weg vom Begräbnis zurück. Rückzieher und Dutzende anderer Taktiken wurden angewendet, um sicherzustellen, dass das Phantom nicht aus dem Grab zurückkehrte. Die Geschlechter tauschten oft die Kleider aus, um das Phantom zu täuschen. Der Sinn von Trauergewändern war es, die Lebenden zu verkleiden, und später, die Toten zu ehren und damit ihre Phantome zu besänftigen.


◄ 87:0
 
87:2 ►