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Die Evolution der menschlichen Regierung

11. Gesetze und Gerichte

70:11.1

Es ist fast ebenso schwierig, zwischen Sitte und Gesetz scharfe Trennlinien zu ziehen, wie festzustellen, wann genau bei der Morgendämmerung auf die Nacht der Tag folgt. Die Sitten sind im Werden begriffene Gesetze und Polizeiregeln. Wenn die nicht näher bestimmten Sitten seit langem gültig sind, neigen sie dazu, sich in genauen Gesetzen, klaren Regelungen und wohldefinierten sozialen Konventionen zu verfestigen.

70:11.2

Das Gesetz ist am Anfang immer negativ und prohibitiv; in vorrückenden Zivilisationen wird es zunehmend positiv und richtungweisend. Die frühe Gesellschaft ging negativ vor, wenn sie dem Einzelnen das Recht auf das Leben dadurch sicherte, dass sie allen anderen das Gebot „du sollst nicht töten“ auferlegte. Jedes Zugeständnis von Rechten oder Freiheiten an den Einzelnen bedeutet die Beschneidung der Freiheiten aller anderen, und das wird durch das Tabu, das primitive Gesetz, erreicht. Die ganze Idee des Tabus ist ihrer Natur nach negativ, denn die primitive Gesellschaft war in ihrer Organisation gänzlich negativ, und das frühe Gerichtswesen beruhte auf der Durchsetzung der Tabus. Aber ursprünglich fanden diese Gesetze nur im Stammesverband Anwendung, wie am Beispiel der späteren Hebräer deutlich wird, die im Umgang mit Nichtjuden andere ethische Regeln hatten.

70:11.3

Der Schwur entsprang in den Tagen Dalamatias dem Bemühen, die Aussagen wahrhaftiger zu machen. Diese Schwüre bestanden darin, gegen sich selber eine Verwünschung auszustoßen. Zuvor pflegte nie jemand gegen die Gruppe auszusagen, in der er geboren war.

70:11.4

Als Verbrechen galt ein Angriff auf die Stammessitten, während Sünde die Übertretung jener Tabus war, die sich der Zustimmung der Geister erfreuten, und es herrschte lange Zeit Verwirrung, weil Verbrechen und Sünde nicht auseinander gehalten werden konnten.

70:11.5

Eigeninteresse belegte das Töten mit Tabu, die Gesellschaft heiligte das Tabu als überlieferte Sitte, während die Religion den Brauch als sittliches Gesetz absegnete. Und so wirkten alle drei zusammen, um das menschliche Leben sicherer und heiliger zu machen. Die Gesellschaft hätte in der Frühzeit nicht zusammenhalten können, wenn die Rechte nicht die Sanktionierung durch die Religion erfahren hätten; Aberglaube war die sittliche und gesellschaft­liche Polizeigewalt der langen evolutionären Zeitalter. Die Alten behaupteten alle, dass ihre ehrwürdigen Gesetze, die Tabus, ihren Vorfahren von den Göttern gegeben worden seien.

70:11.6

Das Gesetz ist eine kodifizierte Niederschrift einer langen menschlichen Erfahrung, eine kristallisierte und legalisierte öffentliche Meinung. Die Sitten waren das Rohmaterial angehäufter Erfahrung, aufgrund dessen führende Köpfe die geschriebenen Gesetze formulierten. Der einstige Richter kannte keine Gesetze. Wenn er ein Urteil verkündete, sagte er einfach: „Der Brauch will es so.“

70:11.7

Der Bezug auf frühere Gerichtsentscheide stellt das Bemühen von Richtern dar, die geschriebenen Gesetze den wechselnden Bedingungen der Gesellschaft anzupassen. Das sorgt für eine fortwährende Anpassung an die sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der beeindruckenden traditionellen Kontinuität.

70:11.8

Bei Streit um Besitz wurde in mancherlei Weise verfahren wie z. B.:

70:11.9

1. Durch Vernichtung des strittigen Besitzes.

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2. Durch Gewalt – die Streitenden entschieden im Kampf.

70:11.11

3. Durch Schiedsspruch – eine dritte Partei entschied.

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4. Durch Anrufung der Ältesten – später der Gerichte.

70:11.13

Die ersten Gerichte waren geregelte Faustkämpfe; die Richter waren nur unparteiische Schiedsrichter. Sie stellten sicher, dass der Kampf nach anerkannten Regeln ausgetragen wurde. Vor Beginn eines solchen Gerichtskampfes hinterlegte jede Partei beim Richter etwas, um die Bezahlung der Kosten und der Buße durch den Verlierer sicherzustellen. „Immer noch war die Macht das Recht.“ Später wurden die physischen Schläge durch Streitgespräche ersetzt.

70:11.14

Die ganze Idee primitiver Justiz beruhte nicht so sehr auf der Suche nach Gerechtigkeit als vielmehr auf dem Bedürfnis, die Auseinandersetzung unter Kontrolle zu behalten und so öffentliche Unordnung und private Gewalt zu vermeiden. Aber der primitive Mensch empfand das, was man heute als Ungerechtigkeit ansehen würde, nicht so sehr; man setzte als selbstverständlich voraus, dass diejenigen, die über Macht verfügten, sie eigennützig einsetzen würden. Nichtsdestoweniger kann der Stand einer Zivilisation sehr genau an der Gründlichkeit und Gerechtigkeit ihrer Gerichte und an der Integrität ihrer Richter abgelesen werden.


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