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Der Glaube Jesu

2. Die Religion Jesu

196:2.1

Vielleicht wird eines Tages in der christlichen Kirche eine Reform stattfinden, die tief greifend genug ist, um zu den unverfälschten religiösen Lehren von Jesus, dem Urheber und Vollender unseres Glaubens, zurückzufinden. Ihr mögt eine Religion über Jesus predigen, aber die Religion von Jesus müsst ihr notgedrungen leben. Im Hochgefühl von Pfingsten führte Petrus unabsichtlich eine neue Religion ein, die Religion des auferstandenen und verherrlichten Christus. Der Apostel Paulus verwandelte dieses neue Evangelium später in das Christentum, eine Religion, die seine eigenen theologischen Ansichten verkörperte und seine eigene persönliche Erfahrung mit dem Jesus auf der Straße von Damaskus zum Ausdruck brachte. Das Evangelium vom Königreich gründet auf der persönlichen religiösen Erfahrung Jesu von Galiläa; das Christentum gründet fast ausschließlich auf der persönlichen religiösen Erfahrung des Apostels Paulus. Nahezu das gesamte Neue Testament ist nicht der Darstellung des bedeutungsvollen und inspirierenden religiösen Lebens Jesu gewidmet, sondern der Erörterung der religiösen Erfahrung des Paulus und der Darstellung seiner persönlichen religiösen Überzeugungen. Die einzigen nennenswerten Ausnahmen zu diesem Befund sind, abgesehen von bestimmten Abschnitten aus Matthäus, Markus und Lukas, das Buch der Hebräer und der Brief des Jakobus. Selbst Petrus kam in seinen Schriften nur ein einziges Mal auf das persönliche religiöse Leben seines Meisters zurück. Das Neue Testament ist ein großartiges christliches Dokument, aber es ist nur ein dürftiges Zeugnis über Jesus.

196:2.2

Jesu irdisches Leben zeigt ein transzendentes religiöses Wachstum von den frühen Ideen primitiver Anbetung und menschlicher Verehrung über die Jahre persönlicher geistiger Verbindung bis hin zum Erreichen jenes fortgeschrittenen und erhabenen Zustandes, in dem er sich seines Einsseins mit dem Vater bewusst war. Und so durchlebte Jesus in einem einzigen kurzen Leben jene Erfahrung religiöser geistiger Entwicklung, die der Mensch auf Erden beginnt und gewöhnlich erst am Ende seines langen Aufenthaltes in den Schulen für geistige Ausbildung auf den aufeinander folgenden Stufen des vorparadiesischen Werdegangs vollendet. Von einem rein menschlichen Bewusstsein der Glaubensgewissheiten persönlicher religiöser Erfahrung entwickelte sich Jesus weiter zu den sublimen geistigen Höhen eindeutigen Gewahrwerdens seiner göttlichen Natur und zum Bewusstsein seiner engen Verbindung mit dem Universalen Vater in der Führung eines Universums. Von dem demütigen Zustand sterblicher Abhängigkeit, der ihm eingab, jenem, der ihn Guter Lehrer nannte, spontan zu antworten: „Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott,“ wuchs er bis zu jenem sublimen Bewusstsein vollendeter Göttlichkeit, das ihn zu dem Ausruf bewog: „Wer von euch überführt mich der Sünde?“ Und dieser schrittweise Aufstieg vom Menschlichen zum Göttlichen war ausschließlich die Leistung eines Sterblichen. Und als er solcherweise Göttlichkeit erreicht hatte, war er immer noch derselbe menschliche Jesus – Menschensohn ebenso sehr wie Gottessohn.

196:2.3

Markus, Matthäus und Lukas bewahren etwas vom Bild des menschlichen Jesus, der den großartigen Kampf auf sich nahm, den göttlichen Willen in Erfahrung zu bringen und diesen Willen zu tun. Johannes zeichnet das Bild eines triumphierenden Jesus, der auf Erden im Vollbewusstsein seiner Göttlichkeit wandelte. Der große Fehler, der von jenen gemacht wurde, die das Leben des Meisters studiert haben, besteht darin, dass einige sich ihn als völlig menschlich vorgestellt haben, während andere nur seine Göttlichkeit gesehen haben. Während seiner ganzen Erfahrung war er wahrlich zugleich menschlich und göttlich, wie er es jetzt noch ist.

196:2.4

Aber dies war der größte Fehler, der begangen wurde: Während der Mensch Jesus als jemand erlebt wurde, der eine Religion besaß, wurde der göttliche Jesus (Christus) fast über Nacht zu einer Religion. Das Christentum des Paulus stellte die Verehrung des göttlichen Christus sicher, verlor aber den kämpfenden und tapferen menschlichen Jesus von Galiläa fast ganz aus den Augen, der durch seinen mutigen persönlichen religiösen Glauben und den heldenhaften, ihm innewohnenden Justierer von den niedrigen Ebenen des Menschseins aufstieg, um mit der Göttlichkeit eins zu werden, und der dadurch zum neuen und lebendigen Weg wurde, auf dem alle Sterblichen in gleicher Weise vom Menschsein zur Göttlichkeit aufsteigen können. Sterbliche auf allen Stufen der Vergeistigung und auf allen Welten können im persönlichen Leben Jesu das finden, was sie stärken und inspirieren wird, während sie von den tiefsten Geistesebenen bis zu den höchsten göttlichen Werten fortschreiten, vom Anfang bis zum Ende aller persönlichen religiösen Erfahrung.

196:2.5

Zur Zeit der Niederschrift des Neuen Testamentes glaubten dessen Verfasser nicht nur zutiefst an die Göttlichkeit des auferstandenen Christus, sondern sie glaubten auch mit Hingabe und aufrichtig an seine unmittelbar bevorstehende Rückkehr auf die Erde zur Vollendung des himmlischen Königreichs. Dieser starke Glaube an des Herrn unmittelbare Rückkehr hatte viel mit der Tendenz zu tun, in den Berichten jene Hinweise wegzulassen, die die rein menschlichen Erlebnisse und Eigenschaften des Meisters schilderten. Die ganze christliche Bewegung strebte immer mehr von dem menschlichen Bild Jesu von Nazareth weg zur Verherrlichung des auferstandenen Christus, des glorifizierten und in Kürze wiederkehrenden Herrn Jesus Christus.

196:2.6

Jesus gründete die Religion persönlicher Erfahrung in Ausführung des Willens Gottes und im Dienst an der menschlichen Bruderschaft; Paulus gründete eine Religion, in welcher der glorifizierte Jesus Gegenstand der Verehrung wurde und die Bruderschaft aus Menschen bestand, die an den göttlichen Christus glaubten. Im göttlich-menschlichen Leben von Jesu Selbsthingabe waren beide Vorstellungen potentiell vorhanden, und es ist wirklich schade, dass seine Anhänger dabei versagten, eine geeinte Religion zu schaffen, die beide Naturen des Meisters, die menschliche und die göttliche, gebührend anerkannt hätte, da sie in seinem Erdenleben untrennbar miteinander verbunden gewesen und im ursprünglichen Evangelium vom Königreich so großartig verkündet worden waren.

196:2.7

Einige energische Äußerungen Jesu würden euch weder schockieren noch stören, wenn ihr nur bedenken wolltet, dass er der unbedingteste und hingebungs­vollste religiöse Mensch der Welt war. Er war ein völlig engagierter Ster­blicher, der sich rückhaltlos der Ausführung des väterlichen Willens widmete. Viele seiner scheinbar harten Aussprüche waren eher persönliche Glaubens­beken­nt­nisse und Ergebenheitsbezeugungen als Gebote für seine Anhänger. Diese Aus­­schließlichkeit der Zielsetzung und selbstlose Hingabe waren es, die ihn in die Lage versetzten, in einem einzigen kurzen Leben so außerordentliche Fort­schritte in der Eroberung des menschlichen Verstandes zu machen. Viele seiner Erklärungen sollten mehr als ein Bekenntnis zu dem betrachtet werden, was er sich selber abverlangte, als was er von allen seinen Anhängern forderte. In seiner Hingabe an die Sache des Königreichs brach Jesus alle Brücken hinter sich ab; der Erfüllung des väterlichen Willens opferte er alles, was sich ihr entgegenstellte.

196:2.8

Jesus segnete die Armen, weil sie meistens aufrichtig und fromm waren; er verurteilte die Reichen, weil sie meistens ausschweifend und gottlos waren. Aber ebenso verurteilte er die gottlosen Armen und lobte die hingebungsvollen und gottesfürchtigen Begüterten.

196:2.9

Jesus führte die Menschen dahin, sich in der Welt zu Hause zu fühlen; er befreite sie von der Sklaverei der Tabus und lehrte sie, dass die Welt nicht von Grund auf schlecht ist. Er sehnte sich nicht danach, seinem irdischen Leben zu entrinnen; er beherrschte die Technik, während seines irdischen Daseins den Willen des Vaters in zufriedenstellender Weise zu tun. Er gelangte mitten in einer realistischen Welt zu einem idealistischen religiösen Leben. Jesus teilte nicht des Paulus pessimistische Sicht der Menschheit. Der Meister erblickte in den Menschen die Söhne Gottes und sah für diejenigen, die sich für das Weiterleben entschieden, eine herrliche und ewige Zukunft voraus. Er war kein skeptischer Moralist; er sah den Menschen in positivem und nicht in negativem Licht. Er sah die meisten Menschen eher als schwach denn als Sünder, eher als zerstreut denn verworfen. Aber auf welcher Stufe sie sich auch immer befanden, sie alle waren Kinder Gottes und seine Brüder.

196:2.10

Er lehrte die Menschen, sich selber in der Zeit und in der Ewigkeit einen hohen Wert beizumessen. Weil Jesus sie so hoch einschätzte, war er bereit, sich unablässig im Dienst an der Menschheit zu verausgaben. Und es war dieser unendliche Wert des Endlichen, der aus der goldenen Regel einen wesentlichen Faktor in seiner Religion machte. Welcher Sterbliche fühlt sich nicht beflügelt durch das außerordentliche Vertrauen, das Jesus in ihn setzt?

196:2.11

Jesus bot keine Regeln für sozialen Fortschritt an; er hatte eine religiöse Sendung, und Religion ist eine ausschließlich individuelle Erfahrung. Kein noch so hoch gestecktes Ziel der fortschrittlichsten Gesellschaft kann je hoffen, über Jesu Bruderschaft der Menschen hinauszugehen, die auf der Erkenntnis der Vaterschaft Gottes beruht. Das Ideal aller gesellschaftlichen Erfüllung kann nur durch das Kommen dieses göttlichen Königreichs verwirklicht werden.


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