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Nach Pfingsten

9. Das Problem des Christentums

195:9.1

Überseht nicht den Wert eures geistigen Erbes, den Strom der Wahrheit, der durch die Jahrhunderte herab sogar bis in die Öde eines materialistischen und säkularen Zeitalters fließt. Vergewissert euch bei all euren löblichen Anstrengungen, die abergläubischen Vorstellungen vergangener Zeitalter loszuwerden, dass ihr an der ewigen Wahrheit festhaltet. Aber seid geduldig! Wenn die gegenwärtige aber­gläubische Auflehnung einmal vorüber ist, werden die Wahrheiten des Evan­geliums Jesu glorreich fortfahren, einen neuen und besseren Weg zu erhellen.

195:9.2

Aber das paganisierte und sozialisierte Christentum braucht einen neuen Kontakt mit den unverfälschten Lehren Jesu; es siecht dahin mangels einer neuen Vision vom irdischen Leben des Meisters. Eine neue und umfassendere Offenbarung der Religion Jesu ist dazu bestimmt, ein Reich von materialistischem Säkularismus zu erobern und eine Weltherrschaft von mechanistischem Naturalismus zu stürzen. Urantia bebt jetzt am Rande einer seiner erstaunlichsten und fesselndsten Epochen gesellschaftlicher Neuausrichtung, sittlicher Wiederbelebung und geistiger Erleuchtung.

195:9.3

Wenn auch in stark veränderter Form, so haben die Lehren Jesu die Mysterien­kulte ihrer Entstehungszeit ebenso überlebt wie die Unwissenheit und den Aberglauben des Mittelalters und sind eben jetzt im Begriff, langsam über den Materialismus, Mechanismus und Säkularismus des zwanzigsten Jahrhunderts zu siegen. Und solche Zeiten großer Prüfungen und drohender Niederlage sind immer Zeiten großer Offenbarung.

195:9.4

Die Religion braucht dringend neue Führer, geistige Männer und Frauen, die es wagen wollen, sich einzig und allein auf Jesus und seine unvergleichlichen Lehren zu verlassen. Wenn das Christentum fortfährt, seine geistige Sendung zu vernachlässigen und sich mit sozialen und materiellen Problemen abzugeben, muss die geistige Wiedergeburt das Kommen jener neuen Lehrer der Religion Jesu abwarten, die sich ausschließlich der geistigen Erneuerung der Menschen widmen werden. Und dann werden diese geistgeborenen Seelen rasch die für die gesellschaftliche, sittliche, wirtschaftliche und politische Umgestaltung der Welt erforderliche Führung und Inspiration bringen.

195:9.5

Die Neuzeit wird sich weigern, eine Religion anzunehmen, die im Wider­spruch zu den Tatsachen steht und sich nicht im Einklang mit ihren höchsten Vorstellun­gen von Wahrheit, Schönheit und Güte befindet. Die Stunde schlägt für eine Wieder­entdeckung der wahren und ursprünglichen Fundamente des heutigen entstellten und kompromittierten Christentums – des wirklichen Lebens und Lehrens Jesu.

195:9.6

Die primitiven Menschen lebten in abergläubischer Versklavung durch religiöse Furcht. Die modernen zivilisierten Menschen fürchten sich vor dem Gedanken, unter die Herrschaft starker religiöser Überzeugungen zu geraten. Der denkende Mensch hat sich immer davor gefürchtet, im Griff einer Religion zu sein. Wenn eine starke und packende Religion ihn zu beherrschen droht, versucht er stets, sie zu rationalisieren, traditionalisieren und institutionalisieren, in der Hoffnung, die Kon­trolle über sie zu gewinnen. Durch ein solches Vorgehen wird sogar eine offenbarte Reli­gion zu einem von Menschen beherrschten Menschenwerk. Moderne intelligente Männer und Frauen meiden die Religion Jesu aus Angst davor, was sie ihnen antun könnte – und was sie mit ihnen machen würde. Und solche Befürchtungen sind wohlbegründet. In der Tat beherrscht und verwandelt Jesu Religion ihre Gläubigen, indem sie von ihnen verlangt, ihr Leben dem Bemühen zu widmen, den Willen des Vaters im Himmel in Erfahrung zu bringen, und sie auffordert, ihre Lebens­­energien dem selbstlosen Dienst an der Bruderschaft der Menschen zu verschreiben.

195:9.7

Eigennützige Männer und Frauen sind ganz einfach nicht bereit, einen solchen Preis zu bezahlen, auch nicht für den größten geistigen Schatz, der je dem sterblichen Menschen angeboten wurde. Erst wenn die schmerzlichen Ent­täuschungen, die sich bei der unbesonnenen und trügerischen Verfolgung selbstsüchtiger Ziele einstellen, den Menschen hinreichend ernüchtert haben, und nachdem er die Unfruchtbarkeit formalisierter Religion entdeckt hat, wird er bereit sein, sich von ganzem Herzen dem Evangelium vom Königreich, der Religion Jesu von Nazareth zuzuwenden.

195:9.8

Die Welt braucht mehr Religion aus erster Hand. Selbst das Christentum – die beste der Religionen des zwanzigsten Jahrhunderts – ist nicht nur eine Religion über Jesus, sondern es ist weitgehend eine Religion, die die Menschen aus zweiter Hand erfahren. Sie nehmen ihre Religion ganz und gar so, wie sie ihnen von ihren anerkannten religiösen Lehrern weitergereicht wird. Welch ein Erwachen würde die Welt erleben, könnte sie nur Jesus sehen, wie er wirklich auf Erden lebte, und seine lebenspendenden Lehren aus erster Hand kennenlernen! Beschreibende Worte schöner Dinge vermögen nicht im selben Maße zu begeistern wie ihr Anblick selber, noch können bekenntnishafte Worte die menschliche Seele so inspirieren wie die Erfahrung, die Gegenwart Gottes zu kennen. Aber ein erwartungsvoller Glaube wird die Hoffnungstür der menschlichen Seele immer offen halten, um die ewigen geistigen Realitäten der göttlichen Werte der jenseitigen Welten einzulassen.

195:9.9

Das Christentum hat gewagt, seine Ideale angesichts der Herausforderung durch menschliche Habgier, Kriegswahnsinn und Machtversessenheit herabzusetzen; aber die Religion Jesu steht da als makellose und transzendente geistige Aufforderung, die sich an das Beste im Menschen wendet, auf dass er sich über dieses ganze Erbe animalischer Entwicklung erhebe und durch Gnade die sittlichen Höhen wahrer menschlicher Bestimmung erreiche.

195:9.10

Formalismus, Überorganisation, Überbetonung des Intellekts und andere ungei­stige Tendenzen bedrohen das Christentum mit einem langsamen Tod. Die moderne christliche Kirche gleicht nicht jener Bruderschaft von dynamischen Gläubigen, der Jesus auftrug, ohne Unterlass für die geistige Umwandlung aufeinander folgender Menschheitsgenerationen zu wirken.

195:9.11

Das sogenannte Christentum ist ebenso sehr zu einer sozialen und kulturellen Bewegung wie zu einem religiösen Glauben und einer religiösen Praxis geworden. Manch ein alter heidnischer Sumpf und manch ein barbarischer Morast entleert sich in den Strom des modernen Christentums; neben dem galiläischen Hochland, das vermeintlich seine einzige Quelle ist, schicken viele alte kulturelle Einzugsgebiete ihre Wasser in den kulturellen Strom von heute.


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