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Nach Pfingsten

10. Die Zukunft

195:10.1

Das Christentum hat dieser Welt in der Tat einen großen Dienst erwiesen, aber was ihr jetzt am meisten Not tut, ist Jesus. Die Welt hat es nötig, Jesus von neuem auf Erden leben zu sehen in der Erfahrung geistgeborener Sterblicher, die den Meis­ter allen Menschen wirksam offenbaren. Es ist sinnlos, von einer Wiederbelebung des frühen Christentums zu sprechen: ihr müsst von dort ausgehen, wo ihr euch befindet. Die moderne Kultur muss durch eine neue Offenbarung von Jesu Leben eine geistige Taufe empfangen und erhellt werden durch ein neues Verständnis seines Evangeliums vom ewigen Heil. Und wenn Jesus auf diese Weise zu neuem Leben ersteht, wird er alle Menschen an sich ziehen. Jesu Jünger sollten mehr sein als Eroberer, nämlich überfließende Quellen der Inspiration und Beispiele eines höheren Daseins für alle Menschen. Religion ist nur ein gesteigerter Humanismus, solange sie nicht göttlich wird durch die Entdeckung der Realität von Gottes Gegenwart in der persönlichen Erfahrung.

195:10.2

Die Schönheit und Erhabenheit, die Menschlichkeit und Göttlichkeit, die Einfachheit und Einmaligkeit von Jesu Erdenleben bieten ein so eindrucksvolles und ansprechendes Bild von Menschenheil und Gottesoffenbarung, dass Theologen und Philosophen aller Zeiten wirklich davon abgehalten werden sollten, es zu wagen, aus einer derart transzendenten Selbsthingabe Gottes in Menschengestalt Glaubenssätze zu entwickeln oder auf ihr theologische Systeme geistiger Versklavung zu errichten. In Jesus brachte das Universum einen sterblichen Menschen hervor, in dem der Geist der Liebe die materiellen Hindernisse der Zeit überwand und über die Tatsache des physischen Ursprungs siegte.

195:10.3

Denkt immer daran: Gott und die Menschen brauchen einander. Sie sind einander unentbehrlich zur vollständigen und endgültigen Erfüllung der ewigen Persönlichkeit­serfahrung in der göttlichen Bestimmung der Universums­finalität.

195:10.4

„Das Reich Gottes ist in euch“ war wahrscheinlich der größte Ausspruch, den Jesus je gemacht hat, neben der Erklärung, dass sein Vater ein lebendiger und liebender Geist sei.

195:10.5

Bei der Gewinnung von Seelen für den Meister ist es nicht die erste unter Zwang, in Pflichterfüllung oder aus Konvention durchlaufene Meile, die den Menschen und seine Welt verwandeln wird, sondern vielmehr die zweite Meile uneinge­schränkten Dienens und freiheitsliebender Hingabe. Sie bedeutet, dass man wie Jesus seinem Bruder in Liebe die Hand reicht und ihn unter geistiger Anleitung dem höheren und göttlichen Ziel der sterblichen Existenz zuführt. Das Christentum geht auch heute bereitwillig die erste Meile, aber die Menschheit schmachtet und stolpert in sittlicher Finsternis dahin, weil es so wenig Authen­tische der zweiten Meile gibt – so wenig erklärte Nachfolger Jesu, die wirklich so leben und lieben, wie er seine Jünger zu leben und zu lieben und zu dienen lehrte.

195:10.6

Der Aufruf zu dem Abenteuer, mittels des geistigen Neuerstehens von Jesu Bruderschaft des Königreichs an einer neuen und verwandelten menschlichen Gesellschaft zu bauen, sollte alle, die an ihn glauben, so begeistern, wie sich die Menschen seit den Tagen nicht mehr hinreißen ließen, als sie als seine leiblichen Gefährten auf der Erde umhergingen.

195:10.7

Kein gesellschaftliches System oder politisches Regime, das die Realität Gottes leugnet, kann in irgendeiner konstruktiven und dauernden Weise zum Fortschritt der menschlichen Zivilisation beitragen. Aber das heutige zersplitterte und säkularisierte Christentum stellt das größte einzelne Hindernis für ihren weiteren Fortschritt dar; das trifft insbesondere für den Orient zu.

195:10.8

Kirchentum ist ein für allemal unvereinbar mit jenem lebendigen Glauben, jenem wachsenden Geist und jenem Erleben aus erster Hand der Glaubens­gefährten Jesu, die in der geistigen Gemeinschaft des Königreichs des Himmels brüderlich vereint sind. Der löbliche Wunsch, einst Vollbrachtes als Tradition zu bewahren, führt oft zur Verteidigung überlebter Formen von Gottesverehrung. Der gut gemeinte Wunsch, alte Gedankensysteme wach zu halten, verhindert wirksam die Förderung von neuen und passenden Mitteln und Methoden, welche die geistigen Sehnsüchte der sich erweiternden und fortschreitenden Mentalität der modernen Menschen befriedigen könnten. Desgleichen stehen die christlichen Kirchen des zwanzigsten Jahrhunderts dem unmittelbaren Fortschritt des wahren Evangeliums – den Lehren Jesu von Nazareth – als großes, aber völlig unbewusstes Hindernis im Wege.

195:10.9

Viele aufrichtige Menschen, die dem Christus des Evangeliums mit Freuden Treue geloben würden, finden es sehr schwierig, enthusiastisch eine Kirche zu unterstützen, die so wenig vom Geist seines Lebens und Lehrens zeigt, und von der man ihnen irrtümlicherweise gesagt hat, sie sei von ihm gegründet worden. Jesus hat die sogenannte christliche Kirche nicht gegründet, aber er hat sie in jeder mit seiner Natur zu vereinbarenden Weise gefördert als beste bestehende Repräsentantin seines Lebenswerks auf Erden.

195:10.10

Wenn die christliche Kirche es nur wagen wollte, des Meisters Programm zu übernehmen, würden Tausende von scheinbar gleichgültigen jungen Menschen vorwärts stürmen, um sich an einem solchen geistigen Unternehmen zu beteiligen, und würden nicht zögern, voll und ganz in dieses große Abenteuer einzusteigen.

195:10.11

Das Christentum sieht sich ernsthaft konfrontiert mit dem Urteilsspruch, das in einem seiner eigenen Schlagworte enthalten ist: „Ein Haus, das mit sich selbst uneins ist, kann keinen Bestand haben.“ Die nichtchristliche Welt wird kaum vor einem in Sekten aufgespaltenen Christentum kapitulieren. Der lebendige Jesus ist die einzige Hoffnung für eine mögliche Vereinigung des Christentums. Die wahre Kirche – die Bruderschaft Jesu – ist unsichtbar, geistig, und ihr Charakteristikum ist Einheit und nicht notwendigerweise Einheitlichkeit. Einheitlichkeit ist das Kennzeichen der physischen Welt mechanistischer Natur. Geistige Einheit ist das Ergebnis der Vereinigung im Glauben mit dem lebendigen Jesus. Die sichtbare Kirche sollte es sich verwehren, noch länger den Fortschritt der unsichtbaren und geistigen Bruderschaft des Königreichs Gottes zu behindern. Und diese Bruderschaft ist dazu bestimmt, im Gegensatz zu einer institutionalisierten, sozialen Organisation ein lebendiger Organismus zu werden. Sie kann ohne weiteres solche Organisationen benutzen, aber sie darf von ihnen nicht verdrängt werden.

195:10.12

Aber auch das Christentum des zwanzigsten Jahrhunderts darf nicht verachtet werden. Es ist das gemeinsame Produkt des sittlichen Genius von Gott kennenden Menschen vieler Rassen und Zeitalter, und es ist tatsächlich eine der größten Triebkräfte für das Gute auf Erden gewesen. Und deshalb sollte niemand es gering achten, trotz seiner ihm innewohnenden und erworbenen Mängel. Das Christentum vermag in nachdenklichen Menschen immer noch mächtige sittliche Gefühle auszulösen.

195:10.13

Aber es gibt keine Entschuldigung für die Verstrickung der Kirche mit Kommerz und Politik; solche unheiligen Allianzen sind ein ungeheuerlicher Verrat am Meis­ter. Und die echten Wahrheitsliebenden werden nicht so bald vergessen, dass diese mächtige institutionalisierte Kirche es oft gewagt hat, neu aufkeimenden Glauben zu ersticken und Wahrheitsbringer zu verfolgen, die etwa in eher unorthodoxer Gewandung auftraten.

195:10.14

Es ist leider nur zu wahr, dass eine derartige Kirche nicht überlebt hätte, wenn es auf der Welt nicht Menschen gegeben hätte, die eine solche Art der Anbetung vorzogen. Viele geistig träge Seelen sehnen sich nach einer alten und autoritären Religion mit rituellen und geheiligten Traditionen. Menschliche Evolution und geistiger Fortschritt genügen kaum, um alle Menschen in die Lage zu versetzen, auf religiöse Autorität zu verzichten. Die unsichtbare Bruderschaft des Königreichs kann diese aus sozial und veranlagungsmäßig unterschiedlichen Schichten bestehenden Familiengruppen sehr wohl mit einschließen, wenn diese nur gewillt sind, wahrhaftig vom Geist geleitete Söhne Gottes zu werden. Aber in der Bruderschaft Jesu ist kein Platz für sektiererische Rivalität, Gruppenhader und Ansprüche auf moralische Überlegenheit und geistige Unfehlbarkeit.

195:10.15

Die verschiedenen Gruppierungen von Christen mögen dazu dienen, zahlreichen unterschiedlichen Typen von angehenden Gläubigen in den vielerlei Völkern der westlichen Zivilisation entgegenzukommen, aber eine solche Zersplitterung der Christenheit stellt eine bedenkliche Schwäche dar, wenn sie versucht, den orientalischen Völkern Jesu Evangelium zu bringen. Diese Rassen verstehen noch nicht, dass es im Christentum, das mehr und mehr zu einer Religion über Jesus geworden ist, getrennt und einigermaßen unabhängig davon, eine Religion von Jesus gibt.

195:10.16

Die große Hoffnung Urantias liegt in der Möglichkeit einer neuen Offen­barung Jesu mit einer neuen und erweiterten Darlegung seiner rettenden Bot­schaft, die die zahlreichen Familien seiner heutigen erklärten Anhänger geistig in liebendem Dienen zusammenführen würde.

195:10.17

Auch die weltliche Erziehung könnte bei dieser großen geistigen Renaissance mitwirken, wenn sie ihre Aufmerksamkeit vermehrt der Aufgabe widmen würde, die Jugend in Lebensplanung und Charakterentwicklung zu unterweisen. Sinn und Zweck aller Erziehung sollte es sein, sorgfältig auf das höchste Lebens­ziel hinzuarbeiten: auf die Entwicklung einer würdevollen und ausgeglichenen Persönlichkeit. Es ist dringend nötig, sittliche Disziplin anstelle von so viel egoistischer Befriedigung zu lehren. Auf einem solchen Fundament kann die Religion mit ihrem geistigen Ansporn zur Erweiterung und Bereicherung des sterblichen Lebens beitragen, ja sogar zur Erlangung der Gewissheit und Höhe ewigen Lebens.

195:10.18

Das Christentum ist eine improvisierte Religion, und deshalb muss es im ersten Gang arbeiten. Geistige Schnellgangleistungen müssen auf die neue Offen­barung der wahren Religion Jesu und auf ihre allgemeinere Akzeptierung warten. Aber das Christentum ist eine mächtige Religion, wenn man sich vor Augen hält, dass die aus dem einfachen Volk stammenden Jünger eines gekreuzigten Zimmermanns jene Lehren in Umlauf brachten, die innerhalb von dreihundert Jahren die römische Welt eroberten und dann über die Barbaren siegten, welche Rom stürzten. Dasselbe Christentum eroberte – absorbierte und veredelte – den ganzen Strom hebräischer Theologie und griechischer Philosophie. Und dann, nachdem die christliche Religion infolge einer Überdosis an Mysterien und Heidentum mehr als tausend Jahre lang ins Koma gefallen war, auferweckte sie sich selber und eroberte praktisch die ganze westliche Welt zurück. Das Christentum enthält genug von Jesu Lehren, um es unsterblich zu machen.

195:10.19

Könnte das Christentum nur mehr von Jesu Lehren erfassen! Es könnte dann so viel mehr tun, um dem modernen Menschen bei der Lösung seiner neuen und immer komplexeren Probleme behilflich zu sein.

195:10.20

Das Christentum leidet unter einer großen Behinderung, weil es in den Augen der ganzen Welt mit einem Teil des Gesellschaftssystems, des industriellen Lebens und der sittlichen Maßstäbe der westlichen Zivilisation identifiziert wird; und so hat das Christentum unwissentlich den Anschein erweckt, als unterstütze es eine Gesellschaft, die unter der Schuld ins Wanken gerät, Wissenschaft ohne Idealismus zu dulden, Politik ohne Prinzipien, Reichtum ohne Arbeit, Vergnügen ohne Hemmung, Wissen ohne Charakter, Macht ohne Gewissen und Industrie ohne Moral.

195:10.21

Die Hoffnung für das moderne Christentum liegt darin, dass es aufhört, die Gesellschaftssysteme und die Industriepolitik der westlichen Zivilisation zu unterstützen, und dass es sich wieder demütig vor dem Kreuz verneigt, welches es so streitbar preist, um dort von Jesus von Nazareth wieder die größten Wahrheiten zu vernehmen, die ein sterblicher Mensch überhaupt hören kann – das lebendige Evangelium von der Vaterschaft Gottes und von der Bruderschaft der Menschen.


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