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Nach Pfingsten

Einfluss der Griechen  •  Der römische Einfluss  •  Unter römischer Oberherrschaft  •  Das europäische finstere Mittelalter  •  Das moderne Problem  •  Materialismus  •  Die Verwundbarkeit des Materialismus  •  Weltlicher Totalitarismus  •  Das Problem des Christentums  •  Die Zukunft

DIE Wirkungen der Predigt des Petrus am Pfingsttag waren derart, dass sie bestimmend wurden für das künftige Vorgehen und die Pläne der Mehrzahl der Apostel bei ihren Bemühungen um die Verkündigung des Evangeliums vom Königreich. Petrus war der wirkliche Begründer der christlichen Kirche; Paulus brachte die christliche Botschaft zu den Heiden, und die griechischen Gläubigen trugen sie in das ganze Römische Reich hinaus.

195:0.2

Obwohl die traditionsgebundenen und von den Priestern unterdrückten Hebräer als Volk das Evangelium Jesu von der Vaterschaft Gottes und von der Bruderschaft der Menschen sowie die Verkündigung der Auferstehung und Himmelfahrt Christi durch Petrus und Paulus (späteres Christentum) zurückwiesen, zeigte sich das übrige Römische Reich für die sich entwickelnden christlichen Lehren empfänglich. Die westliche Zivilisation war zu dieser Zeit intellektuell, kriegsmüde und stand allen existierenden Religionen und Universumsphilosophien durch und durch skeptisch gegenüber. Die Völker der westlichen Welt, Nutznießer der griechischen Kultur, besaßen die verehrte Tradition einer großen Vergangenheit. Sie konnten auf das Erbe großer Leistungen in Philosophie, Kunst, Literatur und politischem Fortschritt blicken. Aber bei all dem Erreichten besaßen sie keine die Seele zufriedenstellende Religion. Ihre geistigen Sehnsüchte blieben unbefriedigt.

195:0.3

In dieses Stadium der menschlichen Gesellschaft drangen nun plötzlich Jesu Lehren ein, die in der christlichen Botschaft enthalten waren. Den hungrigen Herzen der westlichen Völker wurde eine neue Art zu leben dargeboten. Das bedeutete einen unmittelbaren Konflikt zwischen den älteren religiösen Gewohnheiten und der neuen christianisierten Fassung von Jesu Botschaft an die Welt. Ein derartiger Konflikt muss entweder mit einem entschiedenen Sieg des Neuen oder des Alten oder mit einer Art Kompromiss enden. Die Geschichte zeigt, dass die Auseinandersetzung mit einem Kompromiss zu Ende ging. Das Christentum erhob viel zu umfassende Ansprüche, als dass irgendein Volk ihnen im Laufe von einer oder zwei Generationen hätte gerecht werden können. Das Christentum war kein einfacher geistiger Appell, wie Jesus ihn an die Seelen der Menschen gerichtet hatte; es bezog schon früh entschieden Stellung zu religiösen Ritualen, zu Erziehung, Magie, Medizin, Kunst, Literatur, Recht, Regierung, Moral, sexuellem Verhalten, Polygamie und in begrenztem Grade sogar zur Sklaverei. Das Christentum kam nicht nur als neue Religion daher – als etwas, worauf das ganze Römische Reich und der ganze Orient warteten – sondern als neue Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Und mit einem solchen Anspruch beschwor es rasch den gesellschaftlich-moralischen Zusammenprall der Zeitalter herauf. Jesu Ideale, neu interpretiert durch die griechische Philosophie und sozialisiert im Christentum, forderten nun kühn die Traditionen der menschlichen Rasse heraus, wie sie in Ethik, Sittlichkeit und in den Religionen der westlichen Zivilisation verkörpert waren.

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Am Anfang gewann das Christentum nur Angehörige der niedrigeren sozialen und wirtschaftlichen Schichten für sich. Aber mit Beginn des zweiten Jahrhunderts wandten sich die Besten der griechisch-römischen Kultur zunehmend dieser neuen Ordnung christlichen Glaubens zu, dieser neuen Vorstellung von Lebenszweck und Existenzziel.

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Wie kam es, dass diese neue Botschaft jüdischen Ursprungs, die im Lande ihrer Geburt beinahe zu einem Fehlschlag geworden wäre, die besten Köpfe des Römischen Reiches so rasch und gründlich für sich einnahm? Der Triumph des Christentums über die philosophischen Religionen und die Mysterienkulte hat seinen Grund im Folgenden:

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1. Die Organisation. Paulus war ein großer Organisator, und seine Nachfolger hielten das Tempo, das er angegeben hatte.

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2. Das Christentum war durch und durch hellenisiert. Es umfasste das Beste an griechischer Philosophie sowie hebräischer Theologie.

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3. Aber das Wichtigste von allem war, dass es ein neues und großes Ideal enthielt, das Echo von dem sein Leben hingebenden Jesus und den Widerhall seiner Heilsbotschaft an die ganze Menschheit.

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4. Die christlichen Führer willigten ein, mit dem Mithraismus solche Kompromisse einzugehen, dass fast die Hälfte von dessen Anhängern für den Kult von Antiochien gewonnen wurde.

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5. Ebenso schlossen die folgenden und späteren Generationen christlicher Führer mit dem Heidentum weitere Kompromisse dieser Art, so dass sogar der römische Kaiser Konstantin für die neue Religion gewonnen wurde.

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Aber die Christen schlossen mit den Heiden einen klugen Handel ab, indem sie das Gepränge des heidnischen Rituals übernahmen, dahingegen die Heiden nötigten, die hellenisierte Fassung des paulinischen Christentums anzunehmen. Sie machten mit den Heiden ein besseres Tauschgeschäft als mit dem Mithraskult, aber auch in diesem früheren Kompromiss waren sie eindeutige Sieger, indem es ihnen gelang, die rohe Unmoral und auch zahlreiche andere verwerfliche Praktiken der persischen Mysterien zum Verschwinden zu bringen.

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Ob es von ihnen weise oder unweise war, diese frühen Führer des Christentums setzten Jesu Ideale wohlüberlegt aufs Spiel in dem Bemühen, viele seiner Ideen zu retten und zu fördern. Und sie waren darin außerordentlich erfolgreich. Aber täuscht euch nicht! Die beeinträchtigten Ideale des Meisters sind in seinem Evangelium immer noch latent vorhanden, und sie werden sich auf der Welt schließlich mit voller Macht durchsetzen.

195:0.13

Bei dieser Paganisierung des Christentums trug die alte Ordnung viele kleine Siege ritueller Natur davon, aber die Christen gewannen die Oberhand, indem:

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1. in der menschlichen Sittlichkeit ein neuer und sehr viel höherer Ton angeschlagen wurde

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2. der Welt ein neues und bedeutend erweitertes Gotteskonzept geschenkt wurde

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3. die Hoffnung auf Unsterblichkeit zugesicherter Bestandteil einer anerkannten Religion wurde

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4. den hungrigen Seelen der Menschen Jesus von Nazareth geschenkt wurde

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Viele der großen von Jesus gelehrten Wahrheiten gingen bei diesen frühen Kompromissen beinahe verloren, aber sie schlummern fort in dieser Religion des heidnischen Christentums, das seinerseits die paulinische Fassung von Leben und Lehre des Menschensohnes war. Aber noch bevor das Christentum heidnisch wurde, war es ganz und gar hellenisiert worden. Das Christentum verdankt den Griechen viel, sehr viel. Es war ein Grieche aus Ägypten, der sich in Nicäa mutig erhob und den Versammelten so furchtlos gegenübertrat, dass sie es nicht wagten, das Konzept von Jesu Natur so zu verdunkeln, dass die eigentliche Wahrheit über Jesu Selbsthingabe Gefahr gelaufen wäre, für die Welt verloren zu gehen. Dieser Grieche hieß Athanasius, und wären nicht die Eloquenz und Logik dieses Gläubigen gewesen, hätten die Überredungskünste des Arius gesiegt.


 
 
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Das Urantia Buch