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Die Abschiedsrede

5. Der Geist der Wahrheit

180:5.1

Der neue Helfer, den Jesus in die Herzen der Gläubigen zu senden und über alle Menschen auszugießen versprach, ist der Geist der Wahrheit. Diese göttliche Gabe ist nicht der Buchstabe oder das Gesetz der Wahrheit, noch hat sie als Form oder Ausdruck der Wahrheit zu funktionieren. Der neue Lehrer ist die Überzeugung von der Wahrheit, das Bewusstsein und die Gewissheit wahrer Bedeutungen auf wirklich geistigen Ebenen. Und dieser neue Lehrer ist der Geist lebendiger und wachsender Wahrheit, sich erweiternder, entfaltender und anpassender Wahrheit.

180:5.2

Die göttliche Wahrheit ist eine lebendige Realität, die durch den Geist wahrgenommen wird. Wahrheit existiert nur auf den hohen geistigen Ebenen des Bewusst­werdens der Göttlichkeit und der bewussten Verbindung mit Gott. Ihr könnt die Wahrheit kennen, und ihr könnt die Wahrheit leben. Ihr könnt in eurer Seele das Wachstum der Wahrheit erfahren und euch der Freiheit erfreuen, die das Licht der Wahrheit in das Denken bringt, aber ihr könnt die Wahrheit nicht in Formeln, Codes, Credos oder intellektuelle Leitbilder für menschliche Lebensführung einsperren. Wenn ihr euch daran macht, die göttliche Wahrheit menschlich zu formulieren, stirbt sie alsbald. Die posthume Rettung von gefangener Wahrheit kann auch im besten Fall nur eine besondere Form von intellektualisierter und glorifizierter Weisheit hervorbringen. Statische Wahrheit ist tote Wahrheit, und nur tote Wahrheit kann als Theorie festgehalten werden. Lebendige Wahrheit ist dynamisch und kann im menschlichen Verstand nur eine erfahrungsmäßige Existenz haben.

180:5.3

Intelligenz erwächst aus einer materiellen Existenz, die durch die Gegenwart des kosmischen Verstandes erhellt wird. Weisheit beinhaltet bewusstes Wissen, das neue, höhere Bedeutungsebenen erreicht hat und durch die Gegenwart des universell verschenkten Hilfsgeistes der Weisheit aktiviert wird. Wahrheit ist ein Wert geistiger Realität, deren Erfahrung nur geistbegabte Wesen machen, die auf übermateriellen Ebenen universellen Bewusstseins funktionieren, und die, nachdem sie die Wahrheit erkannt haben, dem sie aktivierenden Geist erlauben, in ihrer Seele zu leben und zu herrschen.

180:5.4

Das wahre Kind universeller Erkenntnis sucht in jedem weisen Wort nach dem lebendigen Geist der Wahrheit. Das Individuum, das Gott kennt, hebt die Weisheit ständig auf die lebendigen Wahrheitsebenen göttlichen Vollbringens empor; eine geistig stagnierende Seele zieht die lebendige Wahrheit ständig auf die toten Ebenen der Weisheit und auf den Bereich bloßen gehobenen Wissens herab.

180:5.5

Wenn die goldene Regel der übermenschlichen Erkenntnis des Geistes der Wahrheit entbehrt, wird sie zu nichts weiter als einer hohen ethischen Lebensregel. Wenn man die goldene Regel wörtlich nimmt, kann sie für die Mitmenschen zu einem Instrument großer Kränkung werden. Ohne die geistige Schau der goldenen Weisheitsregel könntet ihr zu folgendem Schluss gelangen: Da ihr wünscht, dass alle Menschen euch in ungeschminkter Wahrheit sagen, was sie denken, solltet ihr euren Gefährten ebenfalls alles, was ihr denkt, frei heraus sagen. Eine so ungeistige Auslegung der goldenen Regel könnte unsägliches Unglück und Leid ohne Ende zur Folge haben.

180:5.6

Einige Leute begreifen und interpretieren die goldene Regel als eine rein intellektuelle Bekräftigung menschlicher Brüderlichkeit. Andere erleben eine solche Bekundung menschlicher Beziehungen als emotionale Befriedigung der zarten Gefühle der menschlichen Persönlichkeit. Wieder ein anderer Sterblicher sieht in derselben goldenen Regel einen Maßstab, den er allen gesellschaftlichen Beziehungen anlegt, eine Norm für soziales Verhalten. Noch andere sehen in ihr eine eindeutige Aufforderung eines großen sittlichen Lehrers, der in dieser Aussage der höchsten Vorstellung von sittlicher Verpflichtung hinsichtlich aller brüderlichen Beziehungen Ausdruck gab. Im Leben von solchen sittlichen Wesen wird die goldene Regel zum weisen Mittelpunkt und Umfang ihrer gesamten Philosophie.

180:5.7

Im Königreich der gläubigen Bruderschaft all jener, die Gott kennen und die Wahrheit lieben, nimmt diese goldene Regel lebendige Qualitäten geistiger Verwirklichung auf jenen höheren Interpretationsebenen an, die die sterblichen Söhne Gottes veranlassen, in dieser Aufforderung des Meisters den Anspruch zu sehen, sich ihren Mitmenschen gegenüber so zu verhalten, dass diesen aus dem Kontakt mit ihnen das größtmögliche Wohl erwächst. Dies ist die Essenz wahrer Religion: Liebet euren Nächsten wie euch selbst.

180:5.8

Aber die höchste Verwirklichung und wahrste Interpretation der goldenen Regel besteht darin, dass der Geist sich der Wahrheit der dauernden und lebendigen Realität einer solch göttlichen Erklärung bewusst ist. Die wahre kosmische Bedeutung dieser Regel universaler Beziehungen tritt erst in ihrer geistigen Verwirklichung zutage, nämlich in der Interpretation der Lebensregel, die der Geist des Sohnes dem Geist des Vaters gibt, welcher der Seele des sterblichen Menschen innewohnt. Und wenn solche vom Geist geführten Sterblichen die wahre Bedeutung dieser goldenen Regel realisieren, erfüllt sie zutiefst die Gewissheit, Bürger eines freundlichen Universums zu sein, und ihre Ideale von geistiger Realität werden nur zufrieden gestellt, wenn sie ihre Nächsten so lieben, wie Jesus uns alle geliebt hat; und das ist die Realität der Verwirklichung der Liebe Gottes.

180:5.9

Zuerst müsst ihr euch über diese Philosophie von der lebendigen Flexibilität und kosmischen Anpassungsfähigkeit der göttlichen Wahrheit an die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten eines jeden Gottessohnes klar werden, bevor ihr hoffen könnt, die Lehre des Meisters und seine Praxis der Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen angemessen zu verstehen. Die Lehre des Meisters ist grundlegend eine geistige Erklärung. Nicht einmal die materiellen Implikationen seiner Philosophie können nutzbringend betrachtet werden, wenn man sie von ihren geistigen Entsprechungen loslöst. Der Geist der Aufforderung des Meisters besteht darin, dem Universum nicht mit selbstsüchtigen Reaktionen Widerstand zu leisten, und gleichzeitig energisch und fortlaufend die rechtschaffenen Ebenen der wahren Geisteswerte zu erreichen: göttliche Schönheit, unendliche Güte und ewige Wahrheit – Gott zu kennen und ihm immer mehr zu gleichen.

180:5.10

Liebe und Selbstlosigkeit müssen im Einklang mit der Führung durch den Geist der Wahrheit einen dauernden Prozess lebendiger, sich neu anpassender Interpretation von Beziehungen durchmachen. Dabei muss es der Liebe gelingen, ihre Vorstellungen vom höchsten kosmischen Wohl für die geliebte Person dauernd zu verändern und zu erweitern. Und dann geht die Liebe weiter und nimmt dieselbe Haltung gegenüber allen anderen Individuen ein, die möglicherweise beeinflusst werden könnten durch die wachsende und lebendige Beziehung der Liebe eines vom Geist geführten Sterblichen zu anderen Bürgern des Universums. Und dieser ganze lebendige Anpassungsprozess der Liebe muss im Lichte sowohl des Umfeldes gegenwärtigen Übels als auch des ewigen Ziels der Vollkommenheit göttlicher Bestimmung vorgenommen werden.

180:5.11

Wir müssen also klar erkennen, dass weder die goldene Regel noch die Lehre von der Widerstandslosigkeit je angemessen als Dogmen oder Vorschriften verstanden werden können. Sie können nur begriffen werden, indem man sie lebt und ihre Bedeutungen dank der lebendigen Interpretation durch den Geist der Wahrheit erfasst, der den liebenden Kontakt zwischen zwei Menschen lenkt.

180:5.12

Und all das weist klar auf den Unterschied zwischen der alten Religion und der neuen hin. Die alte Religion lehrte die Selbstaufopferung; die neue Religion lehrt einzig Selbstvergessenheit, höhere Selbstverwirklichung in sozialem Dienen verbunden mit universellem Verstehen. Die alte Religion war motiviert durch Angstbewusstsein; das neue Evangelium vom Königreich wird beherrscht von der Wahrheitsüberzeugung, vom Geist der ewigen und universalen Wahrheit. Und kein Maß an Frömmigkeit oder Kredoergebenheit kann in der Lebenserfahrung derer, die an das Königreich glauben, die Abwesenheit jener spontanen, großherzigen und aufrichtigen Freundlichkeit ersetzen, die die geistgeborenen Söhne des lebendigen Gottes auszeichnet. Weder Tradition noch irgendein zeremonielles System förmlicher Anbetung kann den Mangel an echtem Mitgefühl für unsere Mitmenschen wettmachen.


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