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Das Königreich des Himmels

5. Spätere Vorstellungen vom Königreich

170:5.1

Nachdem wir Jesu Lehren über das Königreich des Himmels zusammengefasst haben, sind wir autorisiert, einige spätere Ideen wiederzugeben, die mit der Vorstellung vom Königreich in Verbindung gebracht worden sind, und eine prophetische Vorhersage über die mögliche Entwicklung des Königreichs im kommenden Zeitalter zu machen.

170:5.2

Während der ersten Jahrhunderte christlicher Propaganda wurde die Idee des Königreichs von den sich damals rasch ausbreitenden Gedanken des griechischen Idealismus sehr stark beeinflusst, von der Vorstellung vom Natür­lichen als dem Schatten des Geistigen – vom Zeitlichen als dem vergänglichen Schatten des Ewigen.

170:5.3

Aber der große Schritt, der die Verpflanzung der Lehren Jesu von jüdischem in nichtjüdischen Boden kennzeichnete, geschah, als aus dem Messias des Königreichs der Erlöser der Kirche wurde, einer religiösen und sozialen Organisation, die aus den Aktivitäten des Paulus und seiner Nachfolger hervorging und auf Jesu Lehren basierte, welche ihrerseits durch Philos Ideen und die persischen Lehren von Gut und Böse ergänzt worden waren.

170:5.4

Die Verwirklichung der in der Lehre des Evangeliums vom Königreich enthaltenen Ideen und Ideale Jesu wäre beinahe misslungen, da seine Anhänger seine Aussagen in zunehmendem Maße entstellten. Des Meisters Vorstellung vom Königreich wurde durch zwei große Tendenzen nennenswert verändert:

170:5.5

1. Die jüdischen Gläubigen hielten daran fest, in ihm den Messias zu sehen. Sie glaubten, Jesus würde sehr bald wiederkehren, um tatsächlich das weltweite und mehr oder weniger materielle Königreich zu errichten.

170:5.6

2. Die nichtjüdischen Christen begannen sehr früh, die Lehren des Paulus anzunehmen, was immer mehr zu dem allgemeinen Glauben führte, Jesus sei der Erlöser der Kinder der Kirche, jener neuen institutionellen Nachfolgerin der früheren Vorstellung von der rein geistigen Bruderschaft des Königreichs.

170:5.7

Die Kirche als soziale Folgeerscheinung des Königreichs wäre völlig natürlich und sogar wünschenswert gewesen. Das Schlimme an der Kirche war nicht ihre Existenz, sondern vielmehr, dass sie Jesu Vorstellung vom König­reich fast vollständig verdrängte. Die institutionalisierte Kirche des Paulus wurde praktisch zum Ersatz für das Königreich des Himmels, das Jesus verkündet hatte.

170:5.8

Aber zweifelt nicht daran: Dieses selbe Königreich des Himmels, das der Lehre des Meisters zufolge im Herzen des Gläubigen existiert, wird der christlichen Kirche, sowie allen anderen Religionen, Rassen und Nationen der Erde trotzdem verkündigt werden – und sogar jedem Einzelnen.

170:5.9

Das Königreich, wie Jesus es lehrte, das geistige Ideal individueller Recht­­schaf­fenheit und die Vorstellung von der göttlichen Gemeinschaft des Menschen mit Gott ging allmählich in der mystischen Vorstellung von Jesu Person als dem Erlöser-Schöpfer und geistigen Haupt einer sozialisierten, religiösen Gemeinschaft unter. Auf diese Weise wurde eine offizielle und institu­tionelle Kirche zum Ersatz für die individuell durch den Geist gelenkte Bruderschaft des Königreichs.

170:5.10

Die Kirche war ein unvermeidliches und nützliches soziales Ergebnis aus Jesu Leben und Lehren; die Tragödie lag in der Tatsache, dass diese soziale Reaktion auf die Lehren des Königreichs die geistige Vorstellung vom wahren Königreich, wie Jesus es lehrte und lebte, so vollkommen verdrängte.

170:5.11

Für die Juden war das Königreich die israelitische Gemeinschaft ; für die Nichtjuden wurde aus ihm die christliche Kirche. Für Jesus war das Königreich die Summe jener Individuen, die sich zu ihrem Glauben an die Vaterschaft Gottes bekannt und damit die aus tiefem Herzen kommende Bereitschaft bekundet hatten, Gottes Willen zu tun, wodurch sie zu Mitgliedern der geistigen Bruderschaft der Menschen wurden.

170:5.12

Der Meister war sich völlig im Klaren darüber, dass sich im Gefolge der Verbreitung des Evangeliums vom Königreich in der Welt gewisse soziale Auswirkungen einstellen würden; aber seine Absicht war, dass alle solchen wünschenswerten sozialen Erscheinungen als unbewusste und unvermeidliche Ergebnisse oder natürliche Früchte jener inneren persönlichen Erfahrung der einzelnen Gläubigen auftreten sollten, als Früchte jener rein geistigen Gemeinschaft und Verbindung mit dem göttlichen Geist, der allen derartigen Gläubigen innewohnt und sie aktiviert.

170:5.13

Jesus sah voraus, dass eine soziale Organisation oder Kirche dem Fortschritt des wahren geistigen Königreichs auf dem Fuße folgen würde, und aus diesem Grunde widersetzte er sich nie der Ausübung des Taufritus des Johannes durch die Apostel. Er lehrte, dass eine Seele, die die Wahrheit liebt und nach Rechtschaffenheit, nach Gott hungert und dürstet, durch ihren Glauben Einlass in das geistige Königreich erhält; gleichzeitig lehrten die Apostel, dass dieser Gläubige durch den äußeren Ritus der Taufe zu der sozialen Organisation der Jünger zugelassen wird.

170:5.14

Als Jesu unmittelbare Anhänger ihren teilweisen Misserfolg bei der Ver­wirk­lichung seines Ideals erkannten, des Ideals der Errichtung des König­reichs in den Menschenherzen aufgrund der Beherrschung und Führung des ein­zel­nen Gläubigen durch den Geist, machten sie sich daran, seine Lehre vor dem völligen Verschwinden zu bewahren, indem sie des Meisters Ideal vom Königreich durch die schrittweise Schaffung einer sichtbaren sozialen Orga­nisation, der christlichen Kirche, ersetzten. Und nachdem sie diesen Austauschplan durchgeführt hatten, verlegten sie das Königreich in die Zukunft, um folgerichtig zu bleiben und die Anerkennung der Lehre des Mei-s­ters bezüglich der Tatsache des Königreichs sicherzustellen. Sobald die Kirche fest begründet war, begann sie zu lehren, das Königreich werde in Wahrheit auf dem Höhepunkt des christlichen Zeitalters mit dem zweiten Kommen von Christus erscheinen.

170:5.15

Auf diese Weise wurde das Himmelreich zur Vorstellung von einem Zeitalter, zur Idee einer späteren Wiederkehr und zum Ideal der schließlichen Erlösung der Heiligen des Allerhöchsten. Die frühen Christen (und allzu viele der späteren) verloren im Allgemeinen die in Jesu Lehre vom Königreich enthaltene Vater-und-Sohn-Idee aus den Augen und setzten an ihre Stelle die gut organisierte soziale Gemeinschaft der Kirche. So wurde die Kirche in der Hauptsache eine soziale Bruderschaft, die Jesu Ideal und Vorstellung von einer geistigen Bruderschaft wirkungsvoll verdrängte.

170:5.16

Jesu ideale Vorstellung schlug weitgehend fehl, aber auf dem Fundament des persönlichen Lebens des Meisters und seiner Lehren, ergänzt durch die griechischen und persischen Vorstellungen vom ewigen Leben und erweitert durch Philos Lehre vom Zeitlichen im Kontrast zum Geistigen, ging Paulus daran, eine der fortschrittlichsten menschlichen Gesellschaften aufzubauen, die es auf Urantia je gegeben hat.

170:5.17

Jesu Vorstellung ist in den fortgeschrittenen Religionen der Welt immer noch lebendig. Die christliche Kirche des Paulus ist der sozialisierte und humanisierte Schatten dessen, was das Königreich des Himmels in Jesu Absicht sein sollte – und mit großer Sicherheit einmal werden wird. Paulus und seine Nachfolger übertrugen teilweise die Fragen des ewigen Lebens vom Individuum auf die Kirche. Dadurch wurde Christus eher zum Haupt der Kirche als zum älteren Bruder jedes einzelnen Gläubigen in des Vaters Familie des Königreichs. Paulus und seine Zeitgenossen wandten alle geistigen Zusammenhänge, die Jesus selber und den einzelnen Gläubigen betrafen, auf die Kirche als eine Gruppe von Gläubigen an; und damit versetzten sie der Vorstellung Jesu vom göttlichen Königreich in den Herzen der individuellen Gläubigen den Todesstoß.

170:5.18

Und so hat die christliche Kirche jahrhundertelang unter großer Behin­de­rung gelitten, weil sie es gewagt hatte, jene geheimnisvollen Kräfte und Privi­legien des Königreichs für sich zu beanspruchen, Kräfte und Privilegien, die nur zwischen Jesus und seinen gläubigen Brüdern im Geiste ausgeübt und erfahren werden können. Und dabei wird offensichtlich, dass Mitgliedschaft in der Kirche nicht notwendigerweise Gemeinschaft im Königreich bedeutet; diese ist geistig, jene hauptsächlich sozial.

170:5.19

Früher oder später wird ein anderer und größerer Johannes der Täufer mit der Botschaft auftreten: „Das Reich Gottes ist nahe“ – und darunter eine Rückkehr zu jener hohen geistigen Idee Jesu verstehen, der verkündete, dass das Königreich der Wille seines himmlischen Vaters ist, der auf transzendente Weise im Herzen der Gläubigen herrscht – und er wird all dies tun, ohne sich in irgendeiner Weise auf die sichtbare Kirche auf Erden oder auf das erwartete zweite Kommen Christi zu beziehen. Es muss eine Wiedererweckung der tatsächlichen Lehren Jesu kommen, eine Neuformulierung, die das Werk seiner frühen Anhänger rückgängig macht, die es unternommen hatten, ein soziophilosophisches Glaubenssystem um die Tatsache des Aufenthalts Michaels auf Erden herum aufzubauen. In kurzer Zeit verdrängte die Lehre dieser Geschichte über Jesus beinahe die Predigt von Jesu Evangelium vom Königreich. In dieser Weise ersetzte eine historische Religion jene Lehre, in der Jesus die höchsten sittlichen Ideen und geistigen Ideale des Menschen mit der erhabensten Zukunftshoffnung des Menschen – dem ewigen Leben – verschmolzen hatte. Und das war das Evangelium vom Königreich.

170:5.20

Gerade weil Jesu Evangelium so vielschichtig war, spalteten sich innerhalb weniger Jahrhunderte die Exegeten der Aufzeichnungen seiner Lehren in so viele Kulte und Sekten. Diese erbärmliche Unterteilung der christlichen Gläubigen resultiert aus dem Unvermögen, in des Meisters vielfältigen Lehren die göttliche Einheit seines unvergleichlichen Lebens zu erkennen. Aber eines Tages werden die wahrhaft an Jesus Glaubenden in ihrer Haltung gegenüber den Ungläubigen nicht mehr derart geistig gespalten sein. Stets wird es wohl Unterschiede in intellektuellem Verstehen und Interpretieren und sogar unterschiedliche Stufen der Sozialisierung geben, aber ein Mangel an geistiger Brüderlichkeit ist ebenso unentschuldbar wie verwerflich.

170:5.21

Täuscht euch nicht! In Jesu Lehren wohnt eine ewige Natur, die ihnen nicht erlaubt, in den Herzen der denkenden Menschen auf immer unfruchtbar zu bleiben. Das Königreich, wie Jesus es entwarf, hat auf Erden weitgehend fehlgeschlagen; einstweilen hat eine vordergründige Kirche seinen Platz einge­nommen; aber ihr solltet begreifen, dass diese Kirche nur ein Larven­stadium des verhinderten geis­tigen Königreichs ist und dieses durch das materielle Zeitalter hindurch in eine geistigere Dispensation tragen wird, wo die Lehren des Meisters sich günstigerer Entwicklungsbedingungen erfreuen werden. So wird die so genannte christliche Kirche zum Kokon, in dem das König­reich nach Jesu Vorstellung jetzt schlummert. Das Königreich der geistigen Bruderschaft ist immer noch lebendig und wird schließlich und sicher aus seiner langen Versenkung auftauchen, ebenso sicher, wie der Schmetterling letzten Endes prächtig entfaltet aus dem unscheinbareren Geschöpf metamorphischer Entwicklung hervorgeht.


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