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Schrift 153
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Die Krise in Kapernaum

1. Vor dem Auftritt

153:1.1

Eine erlauchte Versammlung begrüßte Jesus um drei Uhr an diesem herrlichen Sabbatnachmittag in der neuen Synagoge von Kapernaum. Jairus präsidierte und reichte Jesus die Schriften zur Lesung. Am Vortag waren aus Jerusalem dreiundfünfzig Pharisäer und Sadduzäer angekommen; über dreißig Häupter und Vorsitzende von Synagogen aus der Nachbarschaft waren ebenfalls zugegen. Diese jüdischen religiösen Führer handelten direkt auf Befehl des Sanhedrins in Jerusalem, und sie bildeten die orthodoxe Vorhut, die gekommen war, um den offenen Kampf gegen Jesus und seine Jünger einzuleiten. Auf den Ehrenplätzen der Synagoge saßen Seite an Seite mit diesen jüdischen Führern die offiziellen Beobachter des Herodes Antipas, die angewiesen worden waren, die Wahrheit über die alarmierenden Berichte in Erfahrung zu bringen, denen zufolge die Volksmenge einen Versuch unternommen habe, Jesus drüben im Herrschaftsbereich seines Bruders Philipp zum König der Juden zu proklamieren.

153:1.2

Jesus war sich bewusst, dass er sich unmittelbar einer unverhüllten und offenen Kriegserklärung seiner an Zahl wachsenden Feinde gegenübersah, und er entschied sich unerschrocken, die Offensive zu ergreifen. Anlässlich der Speisung der Fünftausend hatte er ihre Vorstellungen von einem materiellen Messias herausgefordert; auch diesmal nahm er sich vor, ihre Idee von einem jüdischen Befreier offen anzugreifen. Die Krise, die mit der Speisung der Fünftausend begonnen hatte und mit dieser Predigt am Sabbatnachmittag endete, war der sichtbare Umschwung seines Rufs und seiner Gunst beim Volk. Von jetzt an hatte sich die Arbeit für das Königreich immer mehr auf die wichtigere Aufgabe zu konzentrieren, geistig Bekehrte dauerhaft für die wahrhaft religiöse Bruderschaft der Menschen zu gewinnen. Diese Predigt markiert die Krise des Übergangs von der Periode der Diskussionen, Auseinandersetzungen und Entscheidungen zur Periode offener Kriegführung und endgültiger Akzeptanz oder endgültiger Zurückweisung.

153:1.3

Der Meister wusste genau, dass viele seiner Anhänger sich in Gedanken langsam aber sicher darauf vorbereiteten, ihn letztendlich zurückzuweisen. Ebenso wusste er, dass viele seiner Jünger langsam aber sicher durch jene Gedankenschulung und Seelendisziplin gingen, die es ihnen ermöglichen würde, ihre Zweifel zu besiegen und für ihren gefestigten Glauben an das Evangelium vom Königreich einzustehen. Jesus war sich völlig im Klaren über die Art und Weise, in der sich die Menschen auf die Entscheidungen in einer Krise vorbereiten und mutig beschlossene Taten plötzlich ausführen: nämlich durch den langsamen Vorgang wiederholten Wählens zwischen den stets wiederkehrenden Situationen von Gut und Böse. Er unterwarf seine ausgewählten Botschafter wiederholten Enttäuschungsübungen und verschaffte ihnen häufige und schwierige Gelegenheiten, bei denen sie zwischen der richtigen und der falschen Art, geistige Prüfungen zu bestehen, zu wählen hatten. Er wusste, dass er sich auf seine Jünger verlassen konnte, dass sie angesichts der letzten Prüfung ihre lebenswichtigen Entscheidungen in Übereinstimmung mit früheren, zur Gewohnheit gewordenen Denkweisen und geistigen Reaktionen fällen würden.

153:1.4

Diese Krise in Jesu Erdenleben begann mit der Speisung der Fünftausend und endete mit dieser Predigt in der Synagoge; die Krise im Leben der Apostel begann mit dieser Predigt in der Synagoge, dauerte ein ganzes Jahr und endete erst mit des Meisters Prozess und Kreuzigung.

153:1.5

Bevor Jesus an diesem Nachmittag in der Synagoge zu sprechen begann, bewegte alle, die dort saßen, nur ein einziges großes Rätsel, eine einzige beherrschende Frage. Sowohl seine Freunde als auch seine Feinde sannen nur über dies eine nach: „Wieso hat er die Welle der Volksbegeisterung so vorsätzlich und wirksam umgekehrt?“ Unmittelbar vor und nach dieser Predigt gingen Zweifel und Enttäuschung seiner verärgerten Anhänger in unbewusste Opposition über und entwickelten sich schließlich zu richtigem Hass. Nach dieser Predigt in der Synagoge kam Judas Iskariot der erste bewusste Gedanke, abtrünnig zu werden. Aber noch wusste er solchen Neigungen wirksam zu widerstehen.

153:1.6

Alle befanden sich in einem Zustand der Ratlosigkeit. Jesus hatte sie alle sprachlos und verwirrt gelassen. Eben erst hatte er die größte Demonstration übernatürlicher Macht seiner ganzen Laufbahn gegeben. Die Speisung der Fünftausend war in seinem irdischen Dasein das Ereignis, das am allermeisten an die jüdische Vorstellung vom erwarteten Messias appellierte. Aber dieser außerordentliche Vorteil wurde augenblicklich und unerklärlicherweise aufgehoben durch seine prompte und unzweideutige Weigerung, sich zum König ausrufen zu lassen.

153:1.7

Am Freitagabend und wiederum am Sabbatmorgen hatten die Führer aus Jerusalem lang und ernsthaft mit Jairus gerungen, um zu verhindern, dass Jesus in der Synagoge das Wort ergriff, aber es war umsonst. Auf all ihre Bitten gab Jairus nur eine Antwort: „Ich habe diese Anfrage bewilligt, und ich werde mein Wort nicht brechen.“


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