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Die Weihe der Zwölf

6. Der Abend der Weihe

140:6.1

Am Sonntagabend, nachdem Jesus und die Zwölf von der Anhöhe nördlich von Kapernaum herabgekommen und im Hause des Zebedäus angelangt waren, nahmen sie ein einfaches Mahl ein. Später unterhielten sich die Zwölf miteinander, während Jesus am Ufer spazieren ging. Nach einer kurzen Besprechung, während die Zwillinge ein kleines Feuer entfachten, um ihnen Wärme und mehr Licht zu geben, machte sich Andreas auf die Suche nach Jesus, und als er ihn eingeholt hatte, sagte er: „Meister, meine Brüder sind unfähig zu verstehen, was du über das Königreich gesagt hast. Wir fühlen uns außerstande, dieses Werk zu beginnen, bevor du uns weitere Erklärungen gegeben hast. Ich bin gekommen, um dich zu bitten, dich zu uns in den Garten zu gesellen und uns zu helfen, die Bedeutung deiner Worte zu verstehen.“ Und Jesus ging mit Andreas zu den Aposteln zurück.

140:6.2

Im Garten angelangt, versammelte er die Apostel um sich und fuhr fort, sie zu unterrichten, indem er sprach: „Es fällt euch schwer, meine Botschaft aufzunehmen, weil ihr die neue Lehre unmittelbar auf der alten aufbauen möchtet, aber ich erkläre euch, dass ihr wiedergeboren werden müsst. Ihr müsst von vorne beginnen wie kleine Kinder und gewillt sein, meinen Lehren zu vertrauen und an Gott zu glauben. Das neue Evangelium des Königreichs kann nicht mit dem Bestehenden in Übereinstimmung gebracht werden. Ihr habt falsche Ideen vom Menschensohn und seiner Sendung auf Erden. Aber macht nicht den Fehler zu denken, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten abzuschaffen; ich bin nicht gekommen, um zu zerstören, sondern um zu erfüllen, zu erweitern und zu erleuchten. Ich komme nicht, um das Gesetz zu übertreten, sondern vielmehr, um diese neuen Gebote auf die Tafeln eurer Herzen zu schreiben.

140:6.3

Ich verlange von euch eine Rechtschaffenheit, die über die Rechtschaffenheit jener hinausgehen wird, die die Gunst des Vaters durch Almosengeben, durch Gebete und Fasten zu gewinnen suchen. Wenn ihr ins Königreich eintreten wollt, braucht ihr eine Rechtschaffenheit, die aus Liebe, Barmherzigkeit und Wahrheit besteht – dem aufrichtigen Wunsch, den Willen meines Vaters im Himmel zu tun.“

140:6.4

Da sagte Simon Petrus: „Meister, wenn du ein neues Gebot hast, möchten wir es hören. Zeige uns den neuen Weg.“ Jesus antwortete Petrus: „Ihr habt diejenigen, welche das Gesetz lehren, sagen hören: ‚Du sollst nicht töten; wer tötet, muss sich vor Gericht verantworten.‘ Ich aber halte nach dem Motiv hinter der Tat Ausschau. Ich erkläre euch, dass jeder, der auf seinen Bruder böse ist, Gefahr läuft, verurteilt zu werden. Wer in seinem Herzen Hass nährt und auf Rache sinnt, ist in Gefahr, gerichtet zu werden. Ihr müsst eure Gefährten nach ihren Taten beurteilen, aber der Vater im Himmel urteilt nach der Absicht.

140:6.5

Ihr habt die Gesetzeslehrer sagen hören: ‚Du sollst nicht ehebrechen.‘ Ich aber sage euch, dass jeder Mann, der in begehrlicher Absicht auf eine Frau blickt, mit ihr in seinem Herzen bereits die Ehe gebrochen hat. Ihr könnt die Menschen nur von ihren Handlungen her beurteilen, aber mein Vater schaut in die Herzen seiner Kinder und richtet sie mit Barmherzigkeit nach ihren Absichten und wahren Wünschen.“

140:6.6

Jesus hatte im Sinn, mit der Besprechung der übrigen Gebote fortzufahren, als Jakobus Zebedäus ihn mit der Frage unterbrach: „Meister, was sollen wir die Menschen hinsichtlich der Scheidung lehren? Sollen wir einem Mann erlauben, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, wie Moses es lehrte?“ Als Jesus diese Frage hörte, sagte er: „Ich bin nicht gekommen, um Gesetze zu geben, sondern um zu erleuchten. Ich bin nicht gekommen, um die Königreiche dieser Welt zu reformieren, sondern um das Königreich des Himmels zu errichten. Es ist nicht des Vaters Wille, dass ich der Versuchung erliege, euch Regeln über Regieren, über Handel und soziales Verhalten zu lehren, die vielleicht für den heutigen Tag gut, aber weit davon entfernt wären, auf die Gesellschaft eines anderen Zeitalters anwendbar zu sein. Ich bin einzig auf Erden, um die Gemüter aufzurichten, den Geist zu befreien und die Seelen der Menschen zu retten. Aber zu dieser Frage der Scheidung möchte ich noch bemerken, dass, während Moses solche Dinge billigte, es in den Tagen Adams und im Garten nicht so war.“

140:6.7

Nachdem die Apostel kurz miteinander gesprochen hatten, fuhr Jesus fort: „Ihr solltet immer beide Gesichtspunkte allen sterblichen Verhaltens vor Augen haben – den menschlichen und den göttlichen; die Wege des Fleisches und den Weg des Geistes; die Bewertung im Zeitlichen und den Blickwinkel der Ewigkeit.“ Und obwohl die Zwölf nicht alles, was er sie lehrte, verstehen konnten, war ihnen diese Unterweisung wahrhaft hilfreich.

140:6.8

Und dann sagte Jesus: „Aber ihr werdet über meine Lehren stolpern, weil ihr daran gewöhnt seid, meine Botschaft wörtlich auszulegen; nur langsam nehmt ihr den Sinn meiner Lehre wahr. Denkt immer wieder daran, dass ihr meine Botschafter seid; ihr seid verpflichtet, euer Leben so zu leben, wie ich meines im Geiste gelebt habe. Ihr seid meine persönlichen Vertreter; aber begeht nicht den Fehler, von allen Menschen zu erwarten, dass sie in jeder Beziehung so leben wie ihr. Und vergesst auch nicht, dass ich noch andere Schafe habe, die nicht zu dieser Herde gehören, und dass ich verpflichtet bin, auch ihnen ein Beispiel zu geben, wie man den Willen Gottes tut, während man das Leben eines Sterblichen lebt.“

140:6.9

Da fragte Nathanael: „Meister, sollen wir der Gerechtigkeit keinen Platz geben? Das Gesetz des Moses sagt: ‚Auge um Auge, und Zahn für Zahn.‘ Was sollen wir sagen?“ Und Jesus antwortete: „Ihr sollt Böses mit Gutem vergelten. Meine Botschafter sollen nicht mit den Menschen ringen, sondern liebenswürdig zu allen sein. Gleiches mit Gleichem zu vergelten darf nicht eure Regel sein. Die Herrscher der Menschen mögen solche Gesetze haben, aber im Königreich ist es nicht so; stets soll Barmherzigkeit eure Urteile bestimmen und Liebe euer Verhalten. Und wenn dies zu starke Worte sind, könnt ihr auch jetzt noch umkehren. Wenn ihr die Anforderungen des Apostolats zu hart findet, könnt ihr auf den weniger strengen Pfad der Jüngerschaft zurückkehren.“

140:6.10

Als sie diese aufrüttelnden Worte gehört hatten, begaben sich die Apostel jeder für sich eine Zeit lang abseits, aber sie kehrten bald zurück, und Petrus sagte: „Meis­ter, wir wollen mit dir weitergehen; keiner von uns möchte umkehren. Wir sind voll gewillt, den Extrapreis zu zahlen; wir wollen den Kelch trinken. Wir wollen Apostel sein, und nicht bloß Jünger.“

140:6.11

Als Jesus dies hörte, sprach er: „So seid denn willens, eure Verantwortung zu übernehmen und folgt mir. Tut Gutes im Verborgenen; wenn ihr Almosen gebt, lasst die Linke nicht wissen, was die Rechte tut. Und wenn ihr betet, gehe jeder für sich abseits, und gebraucht nicht leere Wiederholungen und bedeutungslose Phrasen. Denkt immer daran, dass der Vater weiß, was euch Not tut, noch ehe ihr ihn bittet. Gebt euch nicht mit trauriger Miene dem Fasten hin, damit die Leute euch sähen. Da ihr als meine gewählten Apostel jetzt für den Dienst am Königreich bestimmt seid, legt für euch selber auf Erden keine Schätze an, sondern legt euch durch euren selbstlosen Dienst Schätze im Himmel an; denn da, wo sich eure Schätze befinden, ist auch euer Herz.

140:6.12

Das Auge ist die Leuchte des Körpers; deshalb wird euer ganzer Körper voller Licht sein, wenn euer Auge großzügig ist. Wenn aber euer Auge selbstsüchtig ist, wird der ganze Körper voller Finsternis sein. Und wenn das Licht in euch Finsternis geworden ist, wie groß ist dann diese Finsternis!“

140:6.13

Darauf fragte Thomas Jesus, ob sie damit fortfahren sollten, alles gemeinsam zu besitzen. Der Meister sagte: „Ja, meine Brüder, ich möchte, dass wir wie eine einzige verständnisvolle Familie zusammenleben. Euch ist eine große Aufgabe anvertraut, und ich brauche dringend euren ungeteilten Dienst. Ihr wisst, dass man zu Recht sagt: ‚Niemand kann zwei Herren zugleich dienen.‘ Ihr könnt nicht Gott aufrichtig verehren und zugleich dem Mammon von ganzem Herzen dienen. Jetzt, da ihr euch dem Dienst am Königreich rückhaltlos verschrieben habt, bangt nicht mehr um euer Leben; macht euch noch weniger Sorgen darüber, was ihr essen oder trinken werdet; sorgt euch auch nicht um euren Körper, was für Kleider ihr tragen werdet. Ihr habt bereits gelernt, dass willige Hände und aufrichtige Herzen nicht hungern werden. Und jetzt, da ihr euch bereitmacht, all eure Energien auf die Arbeit am Königreich zu verwenden, seid versichert, dass der Vater euren Bedürfnissen Aufmerksamkeit schenken wird. Sucht zuerst das Königreich Gottes, und wenn ihr dort Einlass gefunden habt, werden euch alle nötigen Dinge zuteil werden. Bangt deshalb nicht zu sehr vor dem folgenden Tag. Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Plage habe.“

140:6.14

Als Jesus sah, dass sie bereit waren, die ganze Nacht aufzubleiben, um Fragen zu stellen, sagte er zu ihnen: „Meine Brüder, ihr seid irdische Gefäße; es ist am besten für euch, ihr begebt euch jetzt zur Ruhe, um für die morgige Arbeit frisch zu sein.“ Aber der Schlaf war von ihnen gewichen. Petrus wagte es, seinen Meister zu bitten, ob er „eben nur ein kleines privates Gespräch“ mit ihm haben könne. „Nicht, dass ich vor meinen Brüdern etwas zu verbergen hätte, aber ich bin beunruhigt, und sollte ich vielleicht von meinem Meister einen Tadel verdienen, so würde ich ihn allein mit dir besser ertragen.“ Und Jesus sagte: „Komm mit mir, Petrus“ und ging ihm voran ins Haus. Als Petrus von seinem Gespräch mit dem Meister heiter und sehr ermutigt zurückkehrte, entschloss sich Jakobus, hineinzugehen und mit Jesus zu sprechen. Und so ging es bis in die frühen Morgenstunden weiter: Einer nach dem anderen gingen die übrigen Apostel hinein zu Jesus, um mit dem Meister zu reden. Nachdem sie alle, mit Ausnahme der Zwillinge, die eingeschlafen waren, eine persönliche Aussprache mit ihm gehabt hatten, ging Andreas zu Jesus hinein und sagte: „Meister, die Zwillinge sind im Garten beim Feuer eingeschlafen; soll ich sie wecken, um sie zu fragen, ob sie auch mit dir sprechen möchten?“ Und Jesus lächelte und sagte zu Andreas: „Sie tun gut – störe sie nicht.“ Und nun ging die Nacht zu Ende und das Licht eines neuen Tages dämmerte herauf.


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