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Johannes der Täufer

5. Das Königreich Gottes

135:5.1

Um die Botschaft des Johannes zu verstehen, sollte man den Zustand des jüdischen Volkes zu dem Zeitpunkt berücksichtigen, als er auf der Bühne des Geschehens erschien. Seit fast hundert Jahren befand sich ganz Israel in einem Dilemma; man wusste nicht, wie man die dauernde Unterjochung durch heidnische Oberherren erklären sollte. Hatte nicht Moses gelehrt, dass Rechtschaffenheit immer mit Wohlstand und Macht belohnt werde? Waren sie nicht Gottes auserwähltes Volk? Warum war der Thron Davids verlassen und leer? Im Lichte der Lehren Mose und der Unterweisungen der Propheten fiel es den Juden schwer, die lang anhaltende Trostlosigkeit ihrer Nation zu erklären.

135:5.2

Etwa hundert Jahre vor der Zeit von Jesus und Johannes trat in Palästina eine neue Schule religiöser Lehrer, die Apokalyptiker, auf. Diese neuen Lehrer schufen ein Glaubenssystem, das die Leiden und Demütigungen der Juden damit erklärte, dass sie die Strafe für die Sünden der Nation bezahlten. Sie griffen auf die wohlbekannten Gründe zurück, die zur Erklärung der babylonischen und anderer früherer Gefangenschaften hatten herhalten müssen. Aber, so lehrten die Apokalyptiker, Israel solle Mut fassen, da die Tage seiner Betrübnis beinahe vorüber seien, die Züchtigung von Gottes auserwähltem Volk bald zu Ende und Gottes Geduld mit den heidnischen Ausländern so ziemlich erschöpft sei. Das Ende der römischen Herrschaft war gleichbedeutend mit dem Ende des Zeitalters und in gewissem Sinne mit dem Ende der Welt. Diese neuen Lehrer stützten sich stark auf die Weissagungen Daniels und lehrten dementsprechend, dass die Schöpfung in Kürze in ihr Endstadium eintreten und aus den Königreichen dieser Welt das Königreich Gottes hervorgehen werde. Dies war für das jüdische Verständnis jener Tage der Sinn des Ausdrucks „das Königreich des Himmels“, der sich überall in den Unterweisungen sowohl von Johannes als auch von Jesus findet. Für die Juden Palästinas hatte der Ausdruck „Königreich des Himmels“ nur eine einzige Bedeutung: ein absolut gerechter Staat, in welchem Gott (der Messias) die Nationen der Erde in ebensolcher Machtvollkommenheit regierte, wie er im Himmel herrschte –“Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.“

135:5.3

In den Tagen des Johannes fragten sich alle Juden erwartungsvoll: „Wie bald wird das Königreich kommen?“ Allgemein hatte man das Gefühl, dass das Ende der Herrschaft der heidnischen Nationen näher rücke. Im ganzen Judentum war eine lebhafte Hoffnung und starke Erwartung vorhanden, dass sich die Jahrhunderte alte Sehnsucht noch zu Lebzeiten dieser Generation erfüllen werde.

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Wenn die Meinungen der Juden über die Art des kommenden Königreichs auch weit auseinander gingen, so waren sie sich doch alle in dem Glauben einig, dass das Ereignis unmittelbar bevorstehe, nahe sei, sozusagen vor der Tür stehe. Viele, die das Alte Testament wörtlich auslegten, warteten gespannt auf einen neuen König in Palästina und eine erneuerte jüdische Nation, die, von ihren Feinden befreit, vom Nachfolger des Königs David regiert würde, dem Messias, der sehr bald als rechtmäßiger und gerechter Herrscher der ganzen Welt anerkannt würde. Eine andere, wenn auch kleinere Gruppe frommer Juden besaß eine völlig andere Auffassung von diesem Königreich Gottes. Sie lehrten, dass das kommende Königreich nicht von dieser Welt sein werde; dass die Welt ihrem gewissen Ende entgegengehe und ein „neuer Himmel und eine neue Erde“ die Errichtung des Königreichs Gottes einleiten würden; dass dieses Königreich eine Herrschaft von ewiger Dauer sein werde; dass es keine Sünde mehr geben und die Bürger des neuen Reichs unsterblich sein und sich ewiger Seligkeit erfreuen würden.

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Alle stimmten darin überein, dass der Errichtung des neuen Königreichs auf Erden zwangsläufig eine tief greifende Reinigung oder läuternde Züchtigung vor­ausgehen werde. Die Textgläubigen lehrten, dass ein Weltkrieg ausbrechen und alle Ungläubigen vernichten werde, während die Gläubigen einen allumfassenden und ewigen Sieg erringen würden. Die Spiritualisten lehrten, dass das Königreich durch das große Gericht Gottes eingeleitet würde, das die Sündigen ihrem wohlverdienten Strafurteil und ihrer endgültigen Vernichtung zuführen, gleichzeitig aber die gläubigen Heiligen des auserwählten Volkes an der Seite des über die erlösten Nationen im Namen Gottes herrschenden Menschensohnes auf ehrenvolle und führende Plätze erheben würde. Diese zweite Gruppe vertrat sogar die Ansicht, dass viele fromme Heiden ebenfalls in die Gemeinschaft des neuen Königreichs aufgenommen werden könnten.

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Einige Juden waren der Meinung, Gott könnte dieses neue Königreich möglicherweise durch direkte göttliche Intervention errichten, aber die große Mehrheit glaubte, dass er irgendeinen stellvertretenden Mittler, den Messias, einschalten werde. Und das war die einzig mögliche Bedeutung, die der Ausdruck „Messias“ in der Meinung der Juden der Generation von Johannes und Jesus gehabt haben konnte. Messias konnte sich unmöglich auf einen beziehen, der nur Gottes Willen lehrte oder die Notwendigkeit für ein rechtschaffenes Leben verkündete. Solche heiligen Personen nannten die Juden Propheten. Der Messias musste mehr sein als ein Prophet; der Messias hatte das neue Königreich, das Reich Gottes, zu errichten. Niemand, der an dieser Aufgabe scheiterte, konnte im traditionellen jüdischen Sinn der Messias sein.

135:5.7

Und wer würde dieser Messias sein? Auch hierin waren die jüdischen Lehrer unterschiedlicher Meinung. Die älteren hingen der Lehre vom Sohne Davids an. Die jüngeren lehrten, das neue Königreich sei ein himmlisches Königreich und der neue Herrscher könne folglich ebenso gut eine göttliche Persönlichkeit sein, die lange zur Rechten Gottes im Himmel gesessen hatte. Und so seltsam dies auch anmuten mag: Diejenigen, die eine solche Vorstellung vom Herrscher des neuen Königreichs hatten, sahen ihn nicht als menschlichen Messias, nicht als bloßen Menschen, sondern als „Menschensohn“ – als einen Sohn Gottes – als Himmelsfürsten, der lange Zeit in Bereitschaft gehalten wurde, die Herrschaft über die erneuerte Erde anzutreten. Dies war der religiöse Hintergrund der jüdischen Welt, als Johannes auszog, um zu verkünden: „Bereuet, denn das Königreich des Himmels ist nahe!“

135:5.8

Daraus geht deutlich hervor, dass die Verkündigung des kommenden Königreichs durch Johannes in denen, die seiner leidenschaftlichen Predigt zuhörten, nicht weniger als ein halbes Dutzend verschiedener Vorstellungen wachrief. Aber ungeachtet der Bedeutung, die sie den von Johannes gebrauchten Ausdrücken beilegten, waren die Vertreter jeder dieser Gruppen, die auf das jüdische Königreich warteten, fasziniert von den Aussagen dieses aufrichtigen, begeisterten, rauhbeinigen Predigers der Rechtschaffenheit und Reue, der seine Zuhörer so feierlich aufrief, „dem kommenden Zorn zu entrinnen“.


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